Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Geburtstag wurde Nathanaels Stundenplan erweitert. Er wurde nun auch in Chemie und Physik, außerdem in Religionsgeschichte unterrichtet. Dazu kamen weitere wichtige Sprachen, darunter Latein, Aramäisch und Hebräisch.
Mit diesen vielen Fächern war Nathanael von neun Uhr morgens bis zum Mittagessen beschäftigt. Um ein Uhr ging er in die Küche hinunter, um einsam und allein die belegten Brote zu vertilgen, die ihm Mrs Underwood unter einer Frischhaltefolie hinstellte.
Nachmittags gab es verschiedene Möglichkeiten. Zweimal die Woche setzte Mr Purcell seinen Unterricht fort. An zwei weiteren Nachmittagen wurde Nathanael in die öffentliche Badeanstalt ein paar Häuser weiter gebracht, wo ein stämmiger Mann mit einem Schnurrbart wie ein Kotflügel ein mörderisches Regiment führte. Zusammen mit einer Horde anderer durchweichter Kinder musste Nathanael endlose Bahnen in allen möglichen Stilen und Varianten schwimmen. Er war jedes Mal zu schüchtern und zu erschöpft, um sich groß mit seinen Leidensgenossen zu unterhalten, und die wiederum spürten, was es mit ihm auf sich hatte, und hielten sich von ihm fern. So war er schon mit acht Jahren ein Außenseiter.
Seine beiden anderen Nachmittagsbeschäftigungen waren Musik (donnerstags) und Zeichnen (samstags). Musik verabscheute Nathanael sogar noch mehr als Schwimmen. Mr Sindra, sein Lehrer, war ein beleibter, aufbrausender Mann, dessen Doppelkinn bei jeder Bewegung bebte. Nathanael behielt das Kinn immer im Auge, denn wenn das Beben stärker wurde, war das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass sich ein Wutanfall zusammenbraute. Mr Sindras Wutanfälle stellten sich mit bedrückender Regelmäßigkeit ein. Er konnte seinen Zorn kaum zügeln, wenn sich Nathanael wie so oft durch seine Tonleitern mogelte, die Noten falsch las oder patzte, wenn er vom Blatt spielen sollte.
»Wie willst du mit diesem Geklimper eine Lamia beschwören?«,
schrie Mr Sindra. »Hä? Das ist ja nicht auszuhalten! Gib her!« Er riss Nathanael die Leier aus der Hand und drückte sie an seine breite Brust. Dann fing er mit verzückt geschlossenen Augen zu spielen an. Eine liebliche Melodie erfüllte das Schulzimmer. Mr Sindras kurze, dicke Finger bewegten sich wie tanzende Würstchen über die Saiten. Im Baum vor dem Fenster hielten die Vögel in ihrem Gezwitscher inne und lauschten. Nathanael stiegen Tränen in die Augen. Längst vergessene Erinnerungen wurden in ihm wach…
»Jetzt bist du dran!« Mit einem schrillen Misston brach die Musik ab und Mr Sindra drückte Nathanael die Leier unsanft wieder in die Hand. Nathanael rupfte an den Saiten. Seine Finger verhaspelten sich und blieben hängen. Draußen fiel ein Vogel nach dem anderen benommen vom Baum. Mr Sindras Hängebacken zitterten wie Wackelpudding.
»Aufhören, du Stümper! Sofort aufhören! Willst du, dass dich die Lamia verschlingt? Du sollst sie betören, nicht erzürnen! Leg dieses bedauernswerte Instrument weg und versuch es mit dem Dudelsack.«
Aber ob Dudelsack oder Leier, Singstimme oder Sistrum-Rassel – was Nathanael auch ausprobierte, seine zögerlichen Versuche lösten stets verzweifeltes Wutgebrüll aus. Kein Vergleich zu seinen Zeichenstunden, die unter der Anleitung von Miss Lutyens reibungslos und friedlich verliefen. Die gertenschlanke, sanftmütige Lehrerin war die Einzige aus der Schar seiner Hauslehrer, mit der Nathanael offen reden konnte. Wie Mrs Underwood hielt sie nichts von seinem ›namenlosen‹ Status. Sie hatte ihn unter vier Augen gebeten, ihr seinen Namen zu verraten, und er war ihrem Wunsch ohne Zögern nachgekommen.
»Warum«, fragte er sie eines Frühlingsnachmittags, als sie im Schulzimmer saßen und eine frische Brise durch das offene Fenster hereinwehte, »warum muss ich meine Zeit damit verplempern, dieses Muster abzuzeichnen? Es ist so schwierig und so langweilig! Ich würde viel lieber den Garten zeichnen, oder das Zimmer – oder Sie, Miss Lutyens.«
Sie musste lachen. »Skizzen sind gut und schön für Künstler, Nathanael, oder für reiche junge Damen, die sonst nichts zu tun haben. Aber aus dir wird weder ein Künstler noch eine reiche junge Dame – du greifst aus einem ganz anderen Grund zum Stift. Aus dir soll ein geschickter Handwerker werden, ein technischer Zeichner – du musst in der Lage sein, jedes beliebige Muster wiederzugeben, und zwar schnell, mit sicherem Strich und vor allem absolut genau.«
Nathanael schaute betrübt auf das Blatt, das zwischen ihnen auf dem
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