Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
eine kleine, rundliche Frau mit schneeweißem, kurz geschnittenem Haar. Sie nötigte den Jungen in einen Sessel vor dem Feuer und hielt ihm einen Keks hin. Er sah sie nicht mal an.
So verging eine halbe Stunde. Mrs Underwood plauderte fröhlich über alles, was ihr in den Sinn kam. Der Junge trank ein paar Schlucke Kakao und knabberte an seinem Keks, ansonsten starrte er stumm ins Feuer. Schließlich fasste sich Mrs Underwood ein Herz. Sie setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter.
»Hör zu, mein Lieber«, sagte sie. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich weiß, dass man dir verboten hat, jemandem deinen Namen zu sagen, aber bei mir darfst du eine Ausnahme machen. Wie sollen wir uns denn richtig kennen lernen, wenn ich dich die ganze Zeit mit ›Junge‹ anreden muss? Also – wenn du mir deinen Namen verrätst, verrate ich dir meinen. Das bleibt natürlich unter uns. Was hältst du davon? War das ein Nicken? Also gut, ich bin Martha. Und du bist…?«
Ein leises Schniefen, dann ein noch leiseres Stimmchen: »Nathanael.«
»Das ist ein schöner Name, mein Lieber, und keine Sorge – ich sage ihn nicht weiter. Fühlst du dich jetzt ein bisschen besser? Nimm dir noch einen Keks, Nathanael, und dann zeige ich dir, wo du schläfst.«
Als das Kind gegessen und gebadet hatte und schließlich ins Bett gebracht worden war, fand sich Mrs Underwood im Arbeitszimmer ihres Gatten ein.
»Jetzt schläft er endlich«, sagte sie. »Er macht einen ganz verstörten Eindruck. Kein Wunder, seine Eltern haben ihn einfach im Stich gelassen. Ich finde es grausam, so ein kleines Kind von den Eltern zu trennen.«
»So läuft das eben, Martha. Schließlich muss man den Nachwuchs irgendwo rekrutieren«, erwiderte der Zauberer, ohne von seinem Buch aufzublicken.
Seine Frau ging nicht darauf ein. »Warum kann er nicht weiter bei seiner Familie leben? Oder seine Eltern wenigstens ab und zu besuchen?«
Entnervt ließ der Zauberer das Buch sinken. »Du weißt genau, dass das nicht geht. Sein Geburtsname muss in Vergessenheit geraten, damit ihm seine Feinde nicht eines Tages Schaden zufügen. Und wie soll das funktionieren, wenn er mit seiner Familie in Verbindung bleibt? Außerdem hat schließlich niemand die Eltern gezwungen, den Bengel wegzugeben. Sie wollten ihn loswerden, so ist das nämlich, Martha, sonst hätten sie nicht auf die Anzeige geantwortet. Die Sache ist ganz einfach: Die Eltern bekommen als Entschädigung eine gewisse Summe, der Junge bekommt die Chance, seinem Land auf höchster Ebene zu dienen, und der Staat bekommt einen neuen Lehrling. Schlicht und ergreifend. Alle haben etwas davon.«
»Trotzdem…«
»Also ich habe damit kein Problem, Martha.« Der Zauberer griff wieder zum Buch.
»Das müsste alles nicht sein, wenn es Zauberern gestattet wäre, eigene Kinder zu haben.«
»Das würde bloß zu Konkurrenzkämpfen, Vernunftehen und schließlich zu blutigen Familienfehden führen. Das kannst du in jedem Geschichtsbuch nachlesen, Martha, denk nur an Italien. Nun mach dir mal keine Sorgen wegen des Jungen. Er ist noch ein Kind. Kinder vergessen schnell. Wie steht’s übrigens mit Abendessen?«
Der Zauberer Underwood wohnte in einem jener Häuser, die der Straße eine schmale, würdevolle, wenn auch schmucklose Fassade präsentieren, sich nach hinten jedoch zu einem wahren Labyrinth aus Treppen, Fluren und Zwischenetagen ausdehnen. Insgesamt gab es fünf richtige Stockwerke: einen Keller voller Weinregale, Pilzkulturen und Behälter mit Dörrobst, das Erdgeschoss mit Salon, Esszimmer, Küche und Wintergarten, sodann die beiden oberen Stockwerke, in denen sich diverse Badezimmer, Schlafzimmer und Arbeitszimmer befanden, und schließlich, ganz oben, den Dachboden. Hier schlief Nathanael unter einer steilen Deckenschräge aus weiß getünchten Dachsparren.
Jeden Morgen bei Tagesanbruch weckte ihn das kehlige Gurren der Tauben auf dem Dach. In die Zimmerdecke war eine kleine Luke eingelassen, durch die er, wenn er sich auf einen Stuhl stellte, den grauen, regenverwaschenen Londoner Horizont betrachten konnte. Da das Haus auf einer Anhöhe stand, hatte man eine gute Aussicht. An klaren Tagen konnte er sogar drüben auf der anderen Seite der Stadt den Sendemast des Crystal Palace ausmachen.
Die Zimmereinrichtung bestand aus einem billigen Sperrholzschrank, einer kleinen Kommode, Tisch und Stuhl sowie einem Bücherbord neben dem Bett. Auf den Tisch stellte ihm Mrs Underwood jede Woche einen frischen
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