Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Blumenstrauß.
Seit jenem ersten kummervollen Tag hatte die Frau des Zauberers Nathanael unter ihre Fittiche genommen. Sie hatte den Jungen gern und war stets freundlich zu ihm. Wenn sie zu Hause und unter sich waren, sprach sie den Lehrling zum tiefsten Missfallen ihres Gatten oft mit seinem Geburtsnamen an.
»Eigentlich dürften wir den richtigen Namen des Bengels gar nicht wissen«, wies er sie zurecht. »Das ist verboten! Es ist viel zu gefährlich für ihn. Wenn er mit zwölf Jahren mündig wird, bekommt er einen neuen Namen, den er für den Rest seines Lebens als Mann und Zauberer tragen wird. Bis dahin dürfen wir auf gar keinen Fall…«
»Das merkt doch niemand«, protestierte sie. »Und den armen Kleinen tröstet es ein bisschen.«
Sie war die Einzige, die Nathanael beim Vornamen nannte. Seine Lehrer nannten ihn nach seinem Meister ›Underwood‹, der Meister selbst sagte einfach ›Junge‹ zu ihm.
Nathanael erwiderte Mrs Underwoods Zuneigung mit bedingungsloser Ergebenheit. Er hing an ihren Lippen und gehorchte ihr aufs Wort.
Nach seiner ersten Woche im Haus des Zauberers brachte sie ihm ein Geschenk aufs Zimmer. »Für dich«, verkündete sie. »Es ist alt und ziemlich dunkel, aber ich dachte, es gefällt dir vielleicht.«
Es war ein Gemälde. Eine kleine Bucht mit Segelbooten, umgeben von einer flachen Küstenlandschaft. Der Firnis war so verbräunt, dass die Einzelheiten kaum noch zu erkennen waren, aber Nathanael mochte das Bild sofort. Er sah zu, wie Mrs Underwood es über dem Tisch aufhängte.
»Du wirst zum Zauberer ausgebildet, Nathanael«, sagte sie, »und das ist das Beste, was einem Jungen oder einem Mädchen passieren kann. Deine Eltern hätten kein größeres Opfer bringen können, als dich dieser ehrenvollen Bestimmung zuzuführen. Nicht weinen, mein Lieber. Im Gegenteil, du musst es ihnen danken, indem du tapfer bist, dich so sehr anstrengst, wie du nur kannst, und alles lernst, was deine Lehrer von dir verlangen. Damit erweist du deinen Eltern und auch dir selbst den besten Dienst. Komm mal zu mir ans Fenster und stell dich auf den Stuhl. Siehst du den kleinen Turm da drüben?«
»Den da?«
»Nein, das ist ein Bürogebäude, mein Lieber. Den kleinen braunen da links. Genau. Das ist das Parlament, in dem unsere besten Zauberer sitzen und von wo aus sie Großbritannien und das ganze Empire regieren. Wenn du immer fleißig lernst und deinen Lehrern immer schön gehorchst, darfst du eines Tages auch dort arbeiten, und dann bin ich sehr stolz auf dich.«
»Ja, Mrs Underwood.« Der Junge starrte auf den Turm, bis ihm die Augen brannten, und prägte sich seine Lage fest ein. Ein Sitz im Parlament… Eines Tages wäre es so weit. Bis dahin würde er fleißig sein, damit Mrs Underwood stolz auf ihn sein konnte.
Nach und nach und dank Mrs Underwoods stetiger Zuwendung ließ Nathanaels Heimweh nach. Die Erinnerung an seine fernen Eltern verblasste und schmerzte nicht mehr so sehr und schließlich hatte er sie fast vergessen. Dazu trug auch der straffe Stundenplan bei, der fast seine gesamte Zeit beanspruchte und ihm kaum Gelegenheit zum Grübeln ließ. Unter der Woche weckte ihn Mrs Underwood, indem sie zweimal an seine Zimmertür klopfte.
»Tee steht draußen auf der Treppe. Trinken, nicht treten!«
Dieser Ruf war ein Ritual, das sich eingebürgert hatte, nachdem Nathanael eines Morgens schlaftrunken auf dem Weg hinunter ins Bad aus seinem Schlafzimmer gestürmt war und treffsicher gegen die Tasse getreten hatte, worauf eine Flutwelle heißen Tees gegen die Wand des Treppenhauses schwappte. Der Fleck war noch Jahre später zu sehen, wie getrocknetes Blut. Zum Glück hatte sein Meister von diesem Missgeschick nichts mitbekommen. Er stieg nie bis zum Dachboden herauf.
Wenn er sich im Bad einen Stock tiefer gewaschen hatte, zog Nathanael ein Hemd, eine graue Hose, graue Kniestrümpfe, schmucke schwarze Schuhe und, falls es Winter und kalt im Haus war, einen dicken Wollpullover an, den ihm Mrs Underwood gekauft hatte. Er kämmte sich vor dem großen Spiegel sorgfältig die Haare und ließ den Blick über die schmale, adrette Gestalt mit dem blassen Gesicht gleiten, die ihn ihrerseits ansah. Dann nahm er seine Schulsachen und ging über die Hintertreppe nach unten in die Küche. Mrs Underwood stellte ihm Cornflakes und Toast hin, und er versuchte, die übrig gebliebenen Hausaufgaben vom vorherigen Abend zu erledigen. Oft half ihm Mrs Underwood dabei, so gut sie konnte.
»Aserbeidschan?
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