Bartimäus 04 - Der Ring des Salomo
Blick in die Kugel wirfst oder auch nur den kleinen Zeh ins Wasser tunkst, kannst du den Saal nicht mehr verlassen, bis der König morgen früh hereinkommt und dich findet. Am besten schaust du gar nicht hin.«
Asmira biss sich auf die Unterlippe. »Aber es ist so schön…«
»Schau dir lieber die Wandbemalung an«, fuhr die Katze unbeirrt fort. »Da siehst du den alten Ramses in seinem Streitwagen und Hammurabi auf den Terrassen seines Lustgartens. Dort drüben ist eine nicht besonders ähnliche Darstellung von Gilgamesch… warum der Maler seine gebrochene Nase wieder gerichtet hat? Tja… an diesen Wänden sind sie alle versammelt, die Großen und Mächtigen. Die typische Innendekoration des typischen westasiatischen Despoten, der unbedingt noch größer und mächtiger als seine Vorgänger sein will. Hier sitzt Salomo bestimmt immer auf dem Sofa und denkt sich aus, wie er andere Länder unterwerfen kann, zum Beispiel dein geliebtes Saba.«
Asmira hatte den Blick immer noch nicht von dem verheißungsvoll dampfenden Wasserbecken wenden können, aber bei den letzten Worten des Dschinn fuhr sie zusammen und packte ihren Dolch. Sie riss sich von dem trügerischen Anblick los und schaute die Katze an. Ihre Augen loderten zornig.
»Schon besser«, sagte Bartimäus. »Ich schlage Folgendes vor: Der Saal hat vier Ausgänge, zwei auf der rechten und zwei auf der linken Seite. Alle vier sehen gleich aus. Ich bin dafür, dass wir sie nacheinander durchprobieren. Ich gehe vor, du kommst nach. Du schaust nur mich an, sonst blendet dich der Zauber doch noch. Hast du das kapiert oder soll ich es lieber noch mal sagen?«
»Natürlich habe ich das kapiert, ich bin ja nicht blöd«, erwiderte Asmira ärgerlich.
»Dazu sage ich nichts.« Die Katze flitzte zwischen Sofas und goldenen Tischen hindurch, Asmira rannte leise schimpfend hinterher. Aus dem Augenwinkel sah sie es verlockend glitzern und glänzen wie in einem schönen Traum, aber sie blieb standhaft und hielt den Blick fest auf…
»Kannst du bitte den Schwanz etwas tiefer halten?«, zischte sie.
»Soll ich dich nun ablenken oder nicht?«, gab die Katze zurück. »Dann mecker auch nicht rum. Der erste Ausgang. Ich werfe mal einen Blick hindurch… Oha!« Die Katze duckte sich und sträubte den Schwanz. »Er ist da drin!«, flüsterte sie. »Guck selber – aber pass auf!«
Mit klopfendem Herzen spähte Asmira um die Ecke. Sie bückte in eine runde, kahle Kammer. In die Wände eingelassene Marmorsäulen waren der einzige Schmuck. Mitten im Raum stand ein Podest und darüber spannte sich eine hohe, durchsichtige Kuppel, über der man die Sternbilder in all ihrer Pracht leuchten sah.
Auf dem Podest stand ein Mann.
Er stand mit dem Rücken zu ihnen, aber Asmira erkannte ihn trotzdem, weil er dem Wandbild im Magiersaal glich. Er trug ein bodenlanges, mit goldenen Spiralen besticktes Seidengewand. Das dunkle Haar fiel ihm offen auf die Schultern, die Hände hatte er locker hinter dem Rücken verschränkt.
An einem Finger trug er einen Ring.
Asmira hielt den Atem an. Ohne den Blick von dem König zu wenden, zückte sie einen ihrer Dolche. Die Entfernung betrug höchstens vierzig Fuß. Der Augenblick war gekommen. Sie würde ihm mit einem einzigen Wurf das Herz durchbohren und Saba wäre gerettet. Saba wäre gerettet! Eine Schweißperle lief ihr die Stirn hinab und an der Nase entlang.
Asmira warf den Dolch in die Luft und fing ihn an der nach unten weisenden Spitze auf.
Sie holte aus.
Der König betrachtete versonnen das Firmament.
Jemand zupfte Asmira am Gewand. Sie senkte den Blick. Die Katze zeigte auf den benachbarten Durchgang. Asmira schüttelte den Kopf und hob wieder den Dolch.
Die Katze zupfte so kräftig, dass Asmira nicht richtig zielen konnte. Sie schnitt eine wütende Grimasse, ließ sich aber in den Saal zurückziehen. Dort bückte sie sich und fragte mit gedämpfter, aber wütender Stimme: »Was ist denn?«
»Hier stimmt was nicht.«
»Wie – ›hier stimmt was nicht‹? Das ist doch Salomo, oder nicht?«
»Ich… ich weiß nicht. Falls es ein Trugbild ist, kann ich es nicht durchschauen. Aber…«
»Aber was?«
»Ich weiß auch nicht.«
Asmira richtete sich wieder auf. »Ich tu’s trotzdem.«
»Nein! Warte!«
»Psst! Sonst hört er uns noch! So eine Gelegenheit kommt nicht wieder. Und lass endlich meinen Saum los!«
»Wenn ich’s dir doch sage – hier stimmt was nicht! Es ist zu einfach. Es ist…«
Asmiras Gedanken überschlugen
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