Bartimäus 04 - Der Ring des Salomo
sie mit ausgestrecktem Arm an der Mutter hoch und bettelte: »Lass mich auch mal!«
»Du bist noch zu klein«, erwiderte die Mutter dann schmunzelnd. »Deine Holzdolche liegen besser in der Hand, damit verletzt du dich nicht so leicht. Nein, nicht so…«, (Asmira hatte ihr den Dolch weggenommen), »du musst die Spitze locker zwischen Daumen und Zeigefinger halten… etwa so. Jetzt musst du innerlich ganz ruhig werden. Schließ die Augen, atme tief durch…«
»Wozu? Guck doch mal, wie toll ich werfen kann! Huch…«
Die Mutter lachte. »Nicht schlecht, Asmira. Wenn das Ziel sechs Schritt weiter rechts und zwanzig Schritt näher ran wäre, hättest du es getroffen. So aber bin ich heilfroh, dass ich keine größeren Füße habe.« Sie bückte sich und hob die Waffe auf. »Versuch’s noch mal.«
Die Jahre vergingen, der Sonnengott durchlief täglich seine Himmelsbahn. Asmira war nun siebzehn Jahre alt, leichtfüßig und treffsicher, und eine von vier erst kürzlich beförderten Frauen der Palastwache. Sie hatte sich beim jüngsten Aufstand der Bergstämme ausgezeichnet und den Rebellenführer und seine Zauberer eigenhändig gefangen genommen. Sie hatte mehrmals die Erste Wächterin vertreten und bei religiösen Feiern hinter der Königin gestanden. Trotzdem richtete die Königin von Saba nie das Wort an Asmira oder nahm die junge Frau anderweitig zur Kenntnis – bis eines Nachts der Turm brannte.
Vor dem Fenster hingen noch die Rauchschwaden, aus der Totenhalle hörte man die Klagetrommeln. Asmira saß im Gemach der Königin, hielt ungelenk einen Becher Wein in der Hand und schaute verlegen zu Boden.
»Asmira, meine Liebe«, sagte die Königin, »weißt du, wer diese abscheuliche Tat vollbracht hat?«
Asmira hob den Blick. Die Königin saß so dicht vor ihr, dass sich ihrer beider Knie beinahe berührten – eine beispiellose Nähe. Asmiras Herz klopfte heftig. Sie senkte den Blick wieder. »O meine Königin«, stammelte sie, »es heißt, es sei König Salomo gewesen.«
»Erzählt man sich auch den Grund?«
»Nein, meine Königin.«
»Du darfst mich ruhig anschauen, wenn du mit mir sprichst. Ich bin zwar deine Königin, aber wir sind beide Töchter der Sonne.«
Als Asmira abermals aufschaute, lächelte die Königin sie an. Der Anblick machte Asmira ein wenig schwindelig. Sie trank einen kleinen Schluck Wein.
»Die Erste Wächterin hat mir schon oft berichtet, wie tüchtig du bist«, fuhr die Königin fort. »Sie sagt, du bist schnell, stark und klug. Furchtlos. Einfallsreich, manchmal fast schon tollkühn… Und auch hübsch, das sehe ich selbst. Was weißt du über Salomo, Asmira? Welche Geschichten hast du über ihn gehört?«
Asmiras Wangen brannten, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Vielleicht lag es am Rauch. Sie hatte die Löschaktion unten am Turm beaufsichtigt. »Das Übliche, meine Königin. Salomo wohnt in einem Palast aus Jade und Gold, den er mithilfe seines Zauberrings in einer einzigen Nacht erbaut hat. Er herrscht über zwanzigtausend Geister, einer schrecklicher als der andere. Er hat siebenhundert Frauen – was von verabscheuungswürdiger Sündhaftigkeit zeugt. Er…«
Die Königin hob die Hand. »Ja, das habe ich auch gehört.« Ihr Lächeln erlosch. »Asmira, Salomo giert nach den Reichtümern Sabas. Einer seiner Dämonen hat uns heute Nacht überfallen, und beim nächsten Neumond, das ist in dreizehn Tagen, wird der König mithilfe seines Ringes unsere Stadt dem Erdboden gleichmachen und uns alle töten.«
Asmiras Augen weiteten sich vor Entsetzen, es verschlug ihr die Sprache.
»Es sei denn…«, fuhr die Königin fort, »es sei denn, ich kaufe mich frei. Das kommt natürlich nicht infrage. Damit würde ich Sabas Ehre verletzen und meine eigene ebenso. Aber was kann ich sonst tun? Gegen den Ring komme ich nicht an. Die Gefahr lässt sich nur abwenden, wenn Salomo seinerseits getötet wird. Was ziemlich unwahrscheinlich ist, weil er Jerusalem so gut wie nie verlässt und die Stadt gegen Streitmächte und magische Angriffe viel zu gut gesichert ist. Trotzdem…« Die Königin seufzte tief und schaute aus dem Fenster. »Trotzdem will mir der Gedanke nicht aus dem Kopf… ob nicht jemand, der sich ganz allein auf den Weg macht, jemand Kluges, Geschicktes, der harmlos scheint, es aber nicht ist – ob es so jemandem nicht doch gelingen könnte, sich dem König zu nähern… Und wenn die Betreffende mit ihm allein ist, könnte sie… Ach, es wäre trotzdem eine sehr, sehr
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