Bartimäus 04 - Der Ring des Salomo
gesprochen. Darf ich nach Eurem Namen fragen?«
Asmira hatte schon vor ihrem Aufbrach beschlossen, ihren Namen und ihre Herkunft auf keinen Fall preiszugeben. Sie hatte einen Gutteil der Reise damit zugebracht, sich eine Lügengeschichte auszudenken. »Ich heiße Cyrine.«
»Und woher kommt Ihr, Cyrine?«
»Ich bin Priesterin des Sonnentempels im Lande Himjar. Ich will nach Jerusalem.«
Der junge Kaufmann machte die Beine lang. »Himjar? Wo liegt das denn?«
»In Südarabien.« In Wahrheit war Himjar ein kleines Küstenkönigreich westlich von Saba, bekannt für seine Ziegen, seinen Honig und seine Unbekanntheit, weshalb sich Asmira Himjar als vorgebliche Heimat ausgesucht hatte. Sie selbst war noch nie dort gewesen und die meisten anderen Leute hoffentlich auch nicht.
»Was habt Ihr in Jerusalem zu tun, dass Ihr so eine weite Reise auf Euch nehmt?«
»Ich will König Salomo aufsuchen. Mein Volk braucht seine Hilfe.« Asmira klimperte mit den Wimpern und seufzte mädchenhaft. »Hoffentlich erteilt er mir eine Audienz.«
»Es heißt, Salomo hält täglich Audienzen ab und hört jeden an, der sich dort einfindet.« Der Kaufmann trank einen großen Schluck aus seiner ledernen Weinflasche. »Vor ein paar Jahren hatten Bauern aus der Nähe von Tyros mit einer Käferplage zu kämpfen. Sie wandten sich an Salomo. Der hat sofort seine Dämonen vorbeigeschickt, und die haben die Käfer – schwups – ausgerottet. So viel zum Thema Zauberring. Einen Schluck Wein?«
»Nein danke. Die Audienzen finden jeden Tag statt, sagt Ihr? Glaubt Ihr, auch ich könnte daran teilnehmen?«
»Aber sicher. Ein hübsches Mädchen wie Ihr wird überall vorgelassen.« Der Kaufmann schaute in die Nacht hinaus. »Da Ihr aus Arabien kommt, wart Ihr bestimmt noch nie hier, oder?«
Asmira überlegte gerade, wie sie vorgehen sollte, wenn sie endlich in Jerusalem angekommen war. Sie würde unverzüglich den Palast aufsuchen und sich um eine Audienz gleich am nächsten Tag bemühen. Man würde sie zum König führen. Und wenn sie dann vor ihm stand und alle darauf warteten, dass sie irgendein albernes Anliegen vorbrachte, würde sie vortreten, ihren Umhang zurückschlagen und…
Vor lauter Vorfreude brannte ihre Brust wie Feuer, ihre Handflächen kribbelten. »Nein«, antwortete sie geistesabwesend, »ich war noch nie in Israel.«
»Ich meine doch hier!« Er zeigte auf den Felsen über ihnen.
»Auch nicht.«
»Aha!« Er schmunzelte. »Seht Ihr die Sandsteinsäule dort drüben? Das ist ein berühmtes Wahrzeichen dieser Gegend. Kennt Ihr es?«
Asmira gab sich einen Ruck und schaute auf. Die Säule war verwittert und eigenartig geformt, auf der Spitze saßen ein paar knollige Auswüchse. Während Asmira das Gebilde noch betrachtete, gemahnte es im Schein der letzten Sonnenstrahlen, die sich wie scharlachrotes Wasser darüber ergossen, beinahe an eine Gestalt…
»Das ist angeblich der Afrit Azul«, erklärte der Kaufmann, »ein ehemaliger Sklave Salomos. Der Afrit wollte den Zauberring vernichten, heißt es, aber das ist ihm nicht gut bekommen. Er wurde zu Stein verwandelt und hat sich seither nicht mehr vom Fleck gerührt!« Der junge Mann wandte den Kopf und spuckte ins Feuer. »Nicht schlecht, was? Seht nur, wie riesig er ist. Er muss an die fünfundzwanzig Fuß groß gewesen sein.«
Asmira warf wieder einen Blick auf das Steingebilde und erschauerte jäh. Die Nacht kam ihr auf einmal unangenehm kalt vor. Die Steinsäule war so hoch, dass sie die Sterne zu streifen schien. Und was war das? Erkannte man ganz oben nicht die brutalen Züge eines groben Gesichts…?
Nein. Wind und Sand hatten ihr Werk verrichtet. Der Stein war bis zur Unkenntlichkeit verwittert.
Asmira zog den Umhang enger um sich und rückte näher ans Feuer, ohne sich um die folgenden Fragen ihres Reisegefährten zu kümmern. Ihr war übel, ihre Zähne fühlten sich locker an. Alle Vorfreude war wie von einer Riesenhand erstickt. Mit einem Mal wurde Asmira die ganze Tragweite ihres Vorhabens bewusst. Der zu Stein verwandelte Dämon führte ihr vor Augen, was keine Lagerfeuergeschichte vermochte: die schiere Macht und Willkür des Ringbesitzers.
Am Morgen des neunten Tages erreichte die Karawane einen von hohen Sandsteinfelsen gesäumten Hohlweg. Die Kuppen der Felsen waren sonnenbeschienen, doch unten in der Schlucht war das Licht grau und kalt.
Asmira hatte wieder schlecht geschlafen. Die Furcht, die sie am vergangenen Abend überwältigt hatte, war abgeklungen,
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