Bastard
ohne dass uns jemand nach unseren Ausweisen gefragt hätte. Schließlich stehen keine Wachen mit Maschinenpistolen herum. In der Gegend wimmelt es von Touristen.« Ich fühle mich streitlustig und aggressiv, obwohl ich es nicht sein will.
»Die Kommandozentrale der Küstenwache ist für Touristen tabu. Um auf den Anlegesteg zu kommen, muss man durch ein bewachtes Tor«, antwortet Benton sehr ruhig und gelassen.
»Ich vermisse es. Lass uns bald ein paar Tage dort verbringen. « Ich bemühe mich um einen freundlichen Tonfall, weil ich mich schrecklich benehme. »Nur wir beide.«
»Ja. Das werden wir. Bald«, antwortet er. »Dann reden wir und klären alles.«
Plötzlich sehe ich sie messerscharf umrissen vor mir: unsere Lieblingssuite im Fairmont Hotel am Battery Wharf, die wie ein Finger aufs Wasser hinausragt. Gleich nebenan befindet sich die Kommandozentrale der Küstenwache. Ich sehe das gekräuselte dunkelgrüne Hafenwasser und höre, wie es gegen die Pfosten schwappt, so als wäre ich wirklich dort. Takelagen
schlagen klappernd gegen Masten, und Schiffe lassen röhrend ihre Signalhörner ertönen.
»Und wir nehmen keine Anrufe an, gehen spazieren, lassen uns das Essen aufs Zimmer bringen und beobachten vom Fenster aus die großen Schiffe, Schleppkähne, Tanker. Das wäre wunderschön. Meinst du nicht?« Allerdings ist mein Tonfall alles andere als nett, sondern eher fordernd und zornig.
»Wenn du möchtest, dieses Wochenende. Falls wir können«, antwortet er, während er auf seinem iPhone etwas liest und den Text mit dem Daumen herunterscrollt.
Ich schiebe die Kaffeetasse weg. Die Schreibtischkante wirkt nicht eckig, sondern rund. Zu viel Koffein. Mein Herz klopft heftig, und ich fühle mich schwindlig und aufgekratzt.
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn du die ganze Zeit auf dein Telefon starrst«, platze ich heraus. »Du weißt, wie sehr ich es verabscheue, während wir uns unterhalten.«
»Im Moment lässt es sich nicht vermeiden«, erwidert er und liest weiter.
»Wenn man von der Ninety-third in die Commercial Street abbiegt, ist man sofort da«, setze ich die Debatte fort. »Ein bequemer Weg, eine Leiche loszuwerden. Man fährt einfach zum Hafen und wirft sie hinein. Nackt, damit Faserspuren, zum Beispiel vom Inneren des Kofferraums, weggespült werden. « Ich schließe eine Schublade. Als ich weiter vor mich hin murmle, finde ich, dass meine eigene Stimme seltsam klingt. »Schmerzpflaster: Fehlanzeige. In meinen Schreibtischschubladen habe ich auch keine entdeckt. Nur Kaugummi. Und ich habe nie Kaugummi gekaut. Gut, als kleines Kind. Dubble Bubble an Halloween, das war der in dem bunten, gewachsten Papier, das sich an beiden Enden zusammendrehen ließ.«
Ich sehe und rieche ihn. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
»Ich verrate dir ein Geheimnis, das sonst niemand kennt. Ich habe ihn wiederverwendet, ihn gekaut und ihn dann zurück ins Papier getan. Tagelang, bis er nach nichts mehr geschmeckt hat.«
Ich muss Speichel hinunterschlucken.
»Als ich aufgehört habe, an Halloween Süßigkeiten zu sammeln, war auch Schluss mit dem Kaugummi. Schau, du hast mich an Halloween erinnert, etwas, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe. Kaum zu glauben, dass es mir einfach so eingefallen ist. Manchmal vergesse ich, dass ich je ein Kind war – jung, naiv und vertrauensselig.«
Meine Hände zittern.
»Da es besser ist, etwas, das man sich nicht leisten kann, auch nicht zu mögen, habe ich mir das mit dem Kaugummi gar nicht erst angewöhnt.«
Ich zittere.
»Außerdem sollte man nicht aussehen, als ob man aus der Unterschicht stammte, insbesondere dann nicht, wenn es tatsächlich der Fall ist. Wann hast du je erlebt, dass ich Kaugummi kaue? Ich tue so etwas nicht. Das ist Unterschicht.«
»Nichts an dir ist Unterschicht.« Benton betrachtet mich aufmerksam und besorgt. Ich erkenne an seinen Augen, dass ich ihm Angst mache.
Aber ich kann nicht anders. »Ich habe mein Leben lang verdammt hart daran gearbeitet, dass man mir die Unterschicht nicht anmerkt. Du kanntest mich nicht in meinen Anfangstagen, als ich noch nicht wusste, wie die Menschen wirklich sind. Menschen, die absolute Macht über einen haben und die man eigentlich verehrt. Und ich ahnte nicht, wie geschickt sie einen zu Dingen verleiten, die zur Folge haben, dass man sich nie wieder fühlt wie früher. Auch wenn man dieses Gefühl unter den Dielenbrettern versteckt, wie das schlagende Herz in der Erzählung von Edgar Allan Poe,
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