Bastard
gefunden. Sie wurde nicht mit dem Kopfhörer und der Leiche eingeliefert.«
Der Hund heißt Sock. Auf dem Display des iPads bewegt sich der Mann vorwärts, schnalzt mit der Zunge und fordert Sock zum Aufstehen auf. »Komm, Sock«, lockt er ihn in einem angenehmen Bariton. »Los, du fauler Hund. Es ist Zeit für einen Spaziergang und einen Schiss.« Ich nehme einen leichten Akzent wahr, vielleicht ein britischer oder australischer. Es könnte auch ein südafrikanischer sein, was wirklich ein merkwürdiger Zufall wäre. Ich muss aufhören, an Südafrika zu denken. Konzentrier dich auf das, was du vor dir hast , befehle ich mir, während Sock vom Sofa springt. Ich stelle
fest, dass er kein Halsband trägt. Sock, nach dem Namen zu urteilen vermutlich ein Rüde, ist mager. Seine Rippen treten leicht hervor, was typisch für Greyhounds ist. Außerdem ist er ausgewachsen und offenbar alt. Eines seiner Ohren hat einen unregelmäßigen Rand, als wäre es eingerissen worden. Ich bin sicher, dass er von der Hunderennbahn gerettet wurde, und frage mich, ob er wohl mit einem Mikrochip ausgestattet ist. Wenn ja und falls wir ihn finden, wissen wir dann, woher er stammt und wer ihn adoptiert hat.
Zwei Hände kommen ins Bild, als der Mann sich bückt und Sock eine rote Leine um den langen, schmal zulaufenden Hals legt. Ich bemerke eine Uhr aus silbernem Metall mit einem Entfernungsmesser am Rand und sehe Gelbgold aufblitzen. Möglicherweise ein College-Ring. Falls der Ring mit der Leiche eingeliefert wurde, hilft er uns vielleicht weiter, sofern er graviert ist. Die Hände wirken schmal, mit schlanken Fingern. Die Haut ist leicht gebräunt. Ich erhasche einen Blick auf eine dunkelgrüne Jacke, eine weite schwarze Cargohose und die Spitze eines abgewetzten braunen Wanderstiefels.
Die Kamera richtet sich auf die Wand über dem Sofa. An der wurmstichigen Vertäfelung aus Kastanienholz kommt der untere Rand eines Metallrahmens in Sicht. Als der Mann sich aufrichtet, ist ein Poster oder Kunstdruck zu sehen. Ich kann die Reproduktion der mir vertrauten Zeichnung näher betrachten und erkenne die Skizze von Leonardo da Vinci aus dem 16. Jahrhundert, die ein Gerät mit Flügeln, eine Flugmaschine, darstellt. Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit. Wann genau war es? Im Sommer vor den Anschlägen vom 11. September. Ich habe mit Lucy eine Ausstellung in der Londoner Courtauld Gallery besucht. Leonardo der Erfinder. Viele spannende Stunden haben wir damit verbracht, Vorträgen der weltweit angesehensten Wissenschaftler zu lauschen und dabei da Vincis Entwürfe von Kriegsmaschinen zu Wasser
und zu Land, seiner Luftschraube, der Tauchausrüstung, dem Fallschirm, der riesigen Armbrust, dem sich selbst antreibenden Wagen und dem Roboterritter zu betrachten.
Das große Genie der Renaissance vertrat die Überzeugung, dass Kunst Wissenschaft und Wissenschaft Kunst sei. Die Lösung aller Probleme ließe sich in der Natur finden, wenn man nur sorgfältig und aufmerksam genug hinschaue und wirklich nach der Wahrheit suche. Diese Grundsätze habe ich meiner Nichte den Großteil ihres Lebens über zu vermitteln versucht. Immer wieder habe ich ihr erklärt, dass unsere Umgebung uns Lektionen erteilt, falls wir bescheiden, still und mutig sind. Der Mann, den ich auf dem kleinen Gerät in meiner Hand beobachte, kennt die Antworten, die ich suche. Sprich mit mir. Wer bist du, und was ist geschehen?
Er nähert sich der Tür, die mit einem vorgeschobenen Riegel gesichert ist. Plötzlich ändern sich Perspektive und Kameraeinstellung, und ich frage mich, ob er den Kopfhörer zurechtgerückt hat. Vielleicht hatte er ihn nicht richtig über den Ohren und wollte vor dem Aufbruch Musik einschalten. Er geht an einem wie ein technisches Gerät aussehenden, zusammengeschustert wirkenden Gegenstand vorbei. Möglicherweise eine aus Metallschrott gebastelte groteske Skulptur. Ich halte den Film an, vermag das Objekt jedoch nicht richtig zu erkennen. Wenn ich mir ein wenig Zeit gönnen kann, werde ich das Video wieder und wieder abspielen, jede Einzelheit gründlich unter die Lupe nehmen und nötigenfalls Lucy bitten, die Bilder elektronisch schärfer zu stellen. Doch jetzt muss ich den Mann und seinen Hund zu dem bewaldeten Grundstück, keinen Block von Bentons und meinem Haus entfernt, begleiten. Ich muss Zeugin der Ereignisse werden. In wenigen Minuten wird er sterben. Zeig es mir, und ich werde die Wahrheit in Erfahrung bringen. Lass dir von mir helfen.
Der
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