Bastard
Mann und der Hund steigen in einem schummrig
beleuchteten Treppenhaus vier Stockwerke hinunter. Ihre Schritte auf dem blanken Holz klingen leicht und schnell. Dann treten die beiden auf eine laute, belebte Straße hinaus. Die Sonne steht tief am Himmel. Schneeflecken sind mit einer schwarzen Schmutzkruste bedeckt und erinnern mich an zerquetschte Oreo-Kekse. Wenn der Mann nach unten schaut, sehe ich nasse Pflastersteine, Asphalt und außerdem Sand und Salz, gestreut wegen des Schnees. Autos und Menschen bewegen sich ruckartig und machen Sprünge, als er den Kopf wendet und sich beim Gehen umblickt. Im Hintergrund spielt Musik. Annie Lennox im Satellitenradio. Ich nehme nur so viel von der Außenwelt wahr, wie durch den Kopfhörer dringt und vom Mikrofon im Bügel aufgefangen wird. Offenbar hat der Mann das Radio auf volle Lautstärke gestellt, was nicht ratsam ist, weil man es dann nicht bemerkt, wenn sich jemand von hinten nähert. Warum macht er sich keine Gedanken darüber, was sich in seiner Umgebung abspielt, obwohl er doch so besorgt um seine Sicherheit ist, dass er seine Wohnungstür doppelt verriegelt und eine Waffe trägt?
Aber die Leute sind heutzutage leichtsinnig. Selbst Menschen, die in einem vernünftigen Rahmen Vorsicht walten lassen, überfrachten ihre Konzentrationsfähigkeit in einer ans Lächerliche grenzenden Art und Weise. Sie schreiben SMS und fragen ihre E-Mails ab, während sie Auto fahren, gefährliche Maschinen bedienen oder eine belebte Straße überqueren. Beim Radfahren oder Skaten, ja sogar am Steuerknüppel eines Flugzeugs wird telefoniert. Ich sehe dasselbe wie der Mann und stelle fest, dass er die Concord Avenue entlanggeht. Er und Sock schreiten rasch aus und passieren Mietshäuser aus rotem Backstein, das Polizeipräsidium von Harvard und die dunkelrote Markise des Sheraton Commander Hotel gegenüber vom Cambridge Common. Also wohnt
er ganz in der Nähe des Common in einem älteren Mietshaus mit mindestens vier Stockwerken.
Es wundert mich, dass er mit Sock nicht in den Common geht. Der Park ist bei Hundebesitzern sehr beliebt. Doch er und sein Windhund setzen ihren Weg fort, vorbei an Statuen, Kanonen, Laternenmasten, kahlen Eichen, Bänken und an neben Parkuhren am Straßenrand abgestellten Autos. Ein gelbes Taxi jagt ein dickes Eichhörnchen, und Annie Lennox singt No more I love you’s … I used to have demons in my room at night … Ich bin Augen und Ohren des Mannes und sehe und höre das, was der Kopfhörer aufnimmt. Nichts weist darauf hin, dass er über die versteckte Kamera und das Mikrofon im Bilde ist oder überhaupt an derartige Dinge denkt.
Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass er böse Absichten hegt oder jemanden ausspionieren will, während er seinen Hund spazieren führt. Nur dass er eine halbautomatische Glock mit achtzehn Schuss 9-Millimeter-Munition unter seiner grünen Jacke trägt. Warum? Ist er unterwegs, um jemanden zu erschießen, oder hat er die Waffe zur Selbstverteidigung bei sich? Und wenn ja, wovor hat er Angst? Vielleicht ist es ja einfach nur eine Angewohnheit von ihm, mit einer Waffe in der Tasche herumzulaufen. Manche Leute tun das eben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber weshalb hat er die Seriennummer der Glock abgefeilt? Oder hat ein anderer es getan? Ich überlege, ob die im Kopfhörer versteckten Aufnahmegeräte vielleicht ein privates Experiment von ihm oder Teil eines Forschungsprojekts sind. Cambridge und Umgebung sind ein Mekka der technischen Innovation, einer der Gründe, warum das Verteidigungsministerium, der Staat Massachusetts, Harvard und das MIT einverstanden waren, das CFC in einem Gebäude des Biotechnischen Instituts im Memorial Drive am Nordufer des Charles River anzusiedeln. Möglicherweise war der Mann
ja Doktorand, Informatiker oder Ingenieur. Ich betrachte die ruckartigen und verwackelten Aufnahmen auf dem Bildschirm des iPads, die die Mather Court Apartments, einen Spielplatz, die Garden Street und die windschiefen, verwitterten Grabsteine des Old Burying Ground zeigen.
Auf dem Harvard Square wendet er sich dem Zeitungskiosk an der Crimson Corner zu. Er scheint mit dem Gedanken zu spielen, hinzugehen, vielleicht, um aus dem ausgesprochen breitgefächerten Angebot, das Benton und ich so lieben, eine Zeitung auszuwählen. Das hier ist unser Stadtviertel, das wir auf der Suche nach Kaffee, exotischen Speisen, Büchern und Zeitungen durchstreifen. Der New Yorker , die Los Angeles Times , die Chicago
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