Bastard
Blick auf eine Tür mit einem Riegel. An den Wänden hängen gerahmte Fotos und Poster, die zu schnell vorbeigleiten, als dass ich Einzelheiten erkennen könnte. Ich werde sie später genauer betrachten.
Bis jetzt gibt es nichts, was mir verraten würde, wer der Mann ist oder wo er wohnt. Allerdings scheint es die kleine Wohnung oder vielleicht auch das Haus eines Menschen zu sein, der Tiere liebt, in finanziell gesicherten Verhältnissen lebt und großen Wert auf Privatsphäre und Sicherheit legt. Der Mann, vorausgesetzt, es sind seine Wohnung und sein Hund, bewegt sich intellektuell und technologisch auf hohem Niveau, ist kreativ und organisiert, raucht vermutlich Marihuana und hat sich für ein Haustier entschieden, das ein anspruchsvoller Hausgenosse ist, kein Vorzeigeobjekt, sondern ein Geschöpf, das in einem früheren Leben Grausamkeiten erdulden musste. Ich habe Mitleid mit dem Hund und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist.
Sanitäter und Polizei hätten einen hilflosen Windhund sicher nicht allein und einsam in Norton’s Woods dem neuenglischen Wetter überlassen. Benton hat mir gesagt, heute Morgen seien es in Cambridge minus zehn Grad gewesen und es soll zu schneien anfangen, bevor die Nacht zu Ende ist. Möglicherweise befindet sich der Hund ja inzwischen in der Feuerwache, wo er gut gefüttert und rund um die Uhr versorgt wird. Oder ein Ermittler hat ihn mit nach Hause genommen. Allerdings könnte es auch sein, dass niemand den Hund als Eigentum des Toten erkannt hat.
»Was ist mit dem Greyhound passiert?« Ich muss die Frage einfach stellen.
»Keine Ahnung«, erwidert Marino zu meiner Bestürzung. »Bis heute Morgen, als Lucy und ich uns denselben Film angesehen haben wie du jetzt, wusste niemand von seiner Existenz. Die Sanitäter erinnern sich nicht an einen frei herumlaufenden Windhund, auch wenn sie nicht direkt Ausschau nach einem gehalten haben. Aber das Tor zu Norton’s Woods war bei ihrer Ankunft geöffnet. Wie du sicher weißt, wird es nie abgeschlossen und steht deshalb meistens weit offen.«
»Er wird den Frost nicht überleben. Wie konnte kein Mensch bemerken, dass das arme Tier ohne Leine umherirrt? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass der Hund nicht mindestens einige Minuten im Park hin und her gerannt ist, bevor er durch das offene Tor verschwand. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass ein Hund nicht einfach aus dem Wald und auf die Straße flüchtet, wenn sein Herrchen plötzlich zusammenbricht.«
»Viele Leute nehmen ihre Hunde von der Leine und lassen sie in Parks wie Norton’s Woods frei laufen«, wendet Lucy ein. »So mache ich es wenigstens mit Jet Ranger.«
Jet Ranger ist ihr betagter Bulldoggenrüde. Ich würde seine Fortbewegung nicht unbedingt als Laufen bezeichnen.
»Also ist es vielleicht niemandem aufgefallen, weil es nichts Ungewöhnliches war«, fügt sie hinzu.
»Außerdem wurden die Leute sicher ein wenig davon abgelenkt, dass da ein Typ aus heiterem Himmel tot umgefallen ist«, stellt Marino das Offensichtliche fest.
Ich mustere die Unterkünfte der Soldaten entlang der schlechtbeleuchteten Straße und die Flugzeuge, die, strahlend und riesenhaft wie Planeten, am bewölkten dunklen Himmel schweben. Was ich da gerade gehört habe, ergibt für mich keinen Sinn. Mich wundert, dass der Hund nicht in der Nähe
seines Herrn geblieben ist. Vielleicht ist er ja in Panik geraten oder wurde aus einem anderen Grund nicht bemerkt.
»Der Hund taucht sicher wieder auf«, spricht Marino weiter. »In einer Gegend wie dieser werden die Leute einen allein umherirrenden Windhund nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Bestimmt ist er bei einem der Nachbarn oder einem Studenten. Falls der Typ allerdings umgelegt wurde, hat der Täter den Hund möglicherweise mitgenommen.«
»Wieso?«, wundere ich mich.
»Wie du schon sagtest, sollten wir für alles offen sein«, erwidert er. »Woher wissen wir, ob der Mörder nicht in der Nähe war und alles beobachtet hat? Und in einem günstigen Augenblick hat er sich dann mit dem Hund davongemacht und getan, als wäre es seiner.«
»Aber warum?«
»Er könnte ein Beweisstück sein, das auf irgendeine Weise zum Täter führt«, schlägt er vor. »Ein Hinweis auf seine Identität. Vielleicht war es auch nur ein Spiel. Nervenkitzel. Ein Souvenir. Keine Ahnung, zum Teufel. Aber du wirst in der Videoaufzeichnung erkennen, dass dem Hund irgendwann die Leine abgenommen wurde. Und dreimal darfst du raten: Man hat sie nie
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