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Bastard

Bastard

Titel: Bastard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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weiß noch, dass ich an jenem Tag viel geraucht und mir am Abend einige Scotch pur genehmigt habe, weil ich so aufgeregt und verängstigt war. Der Fall aller Fälle, und das Verteidigungsministerium hatte mich damit beauftragt, mich aus allen anderen ausgewählt. Oder besser, Briggs hatte es getan. Im Frühling des kommenden Jahres wurde ich dann vorzeitig aus der Air Force entlassen, nicht wegen guter Führung, sondern weil die Regierung Reagan mich loswerden wollte. Ich ging unter Bedingungen, die mich bis heute beschämen und kränken. Es ist wohl Karma, dass ich mich heute in einem kreisförmigen Gebäude wiederfinde. Nichts in meinem Leben hat geendet oder angefangen. Was weit weg war, ist jetzt ganz nah. Und in gewisser Weise unterscheidet es sich nicht voneinander.
    Der eindeutigste Hinweis für meine sechsmonatige Abwesenheit von einem Posten, den ich erst noch richtig bekleiden muss, ist, dass in Bryce’ angrenzendem Sekretariat ein gemütliches Durcheinander herrscht, während mein Büro kahl und leer ist. Es verbreitet eine traurige und einsame Stimmung. Mein kleiner Konferenztisch aus gebürstetem Edelstahl ist trist. Nicht einmal eine Topfpflanze steht darauf, obwohl es in einem von mir genutzten Raum sonst immer Pflanzen gibt. Orchideen, Gardenien, Sukkulenten oder für Innenräume geeignete Bäume wie Betelnusspalmen und Sagopalmen. Ich brauche Duft und Leben. Doch was ich bei meinem Einzug hier angeschafft habe, ist fort. Zu viel gegossen oder überdüngt. Ich habe Bryce genaue Anweisungen gegeben und insgeheim befürchtet, er würde innerhalb von drei Monaten alle Pflanzen umbringen. Er hat nur knapp zwei gebraucht.

    Mein Schreibtisch, ein halbmondförmiges Arbeitsplatzmodul aus Stahl mit einer Platte aus schwarzem Furnier, ist leer. Der Tisch, ein dazu passender Aktenschrank und Bücherregale stehen zwischen großen Fenstern mit Blick auf den Charles River und die Skyline von Boston. Hinter meinem Schreibtischstuhl von Aeron verläuft eine Arbeitsplatte aus schwarzem Granit die Wand entlang, auf der mein Leica-Lasermikroskop mit Bildschirmen und Zubehör steht. Daneben befindet sich mein als Ersatzgerät dienendes treues Labormikroskop, ebenfalls von Leica, das ich mit einer Hand und ohne zuvor einen Software-Lehrgang gemacht zu haben, bedienen kann. Sonst ist hier nicht viel zu sehen. Keine Fallakten, keine Totenscheine oder andere Unterlagen, die ich studieren und abzeichnen müsste. Auch keine Post und nur wenige persönliche Gegenstände. Ich komme zu dem Schluss, dass ein solch übertrieben ordentliches Büro keine gute Idee ist. Mir wäre ein Berg Chaos lieber. Wie seltsam, dass ich ein leeres Büro als so erdrückend empfinde, und während ich Erica Donahues Brief in einer Plastikhülle verstaue, wird mir endlich klar, warum ich einer Welt, die in rasantem Tempo papierlos wird, nicht viel abgewinnen kann. Ich möchte dem Feind ins Auge schauen: Stapel, die ich bezwingen muss. Und Freunde, um mich von ihnen trösten zu lassen.
    Gerade lege ich den Brief in einen Schrank, als Lucy lautlos wie ein Geist erscheint. Sie trägt einen ausladenden weißen Kittel, den sie anhat, weil er wärmt, weil sie viel darunter verstecken kann und weil sie große Taschen mag. In dem schlotternden Kittel wirkt sie trügerisch harmlos und viel jünger, als sie eigentlich ist. Doch für mich wird sie immer ein kleines Mädchen bleiben. Ich frage mich, ob Mütter für ihre Töchter stets so empfinden, auch wenn diese Töchter selbst Mütter oder, wie in Lucys Fall, bewaffnet und gefährlich sind.

    Im Taillenbündchen ihrer Cargohose steckt eine Pistole. Ich bemerke, wie egoistisch glücklich ich bin, dass sie zu Hause ist. Sie ist wieder Teil meines Lebens, nicht in Florida oder in Gesellschaft von Menschen, die zu mögen mir nicht leichtfällt. Jaime Berger, Staatsanwältin in Manhattan, gehört auch zu diesen Leuten. Als ich meine Nichte, mein einziges Ersatzkind, ansehe, die gerade in mein Büro kommt, kann ich mich eines Gedankens nicht erwehren, auch wenn ich ihr das nie verraten würde. Ich würde mich freuen, wenn es zwischen ihr und Jaime aus wäre. Aus diesem Grund habe ich sie nie ausdrücklich danach gefragt.
    »Ist Benton noch bei dir?«, erkundige ich mich.
    »Er telefoniert.« Sie schließt die Tür.
    »Mit wem spricht er denn um diese Uhrzeit?«
    Lucy holt sich einen Stuhl, zieht die Füße auf die Sitzfläche und überkreuzt sie an den Knöcheln. »Mit seinen Leuten«, erwidert sie, als wollte sie

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