Bastard
Marinos Stimme im Ohr. »Da waren noch andere Fälle.«
»Verzeihung?«
»Gestern kamen noch andere Fälle rein. Vielleicht hat sonst jemand die Handschuhe entfernt, auch wenn ich nicht den leisesten Schimmer habe, warum. Außer, es ist ein Versehen gewesen.«
»Wer hat diese Fälle bearbeitet?«
»Dr. Lambotte und Dr. Booker.«
»Was ist mit Jack?«
»Zwei weitere Fälle zusätzlich zu unserem Toten aus Norton’s Woods«, erwidert Marino. »Eine Frau, die von einem Zug überrollt worden ist, und ein alter Mann. Jack hat keinen Finger krumm gemacht und sich sofort verdrückt«, fährt er fort. »Er hat sich einen Dreck um den Tatort geschert. Und deshalb haben wir jetzt eine Leiche, die in der Kühlkammer zu bluten anfängt, und müssen beweisen, dass der Typ wirklich tot war.«
9
Die Leitung des Cambridge Forensic Center and Port Mortuary, wie mein Institut offiziell heißt, hat ihr Büro in der obersten Etage. Wie ich inzwischen festgestellt habe, ist es bei einem runden Gebäude schwierig, anderen eine Wegbeschreibung zu geben.
Die beste Lösung, die mir für meine seltenen Besucher eingefallen ist, besteht darin, sie zu bitten, aus dem Aufzug zu steigen und sich auf die Suche nach Zimmer Nummer 111 zu machen. Das ist nur eine Tür von 101 entfernt, weshalb einige Phantasie nötig ist, um zu begreifen, dass 101 die niedrigste und 111 die höchste Zimmernummer ist. Wenn es hier Ecken gäbe, würde mein Büro eine solche am Ende eines langen Flurs einnehmen, aber es gibt eben keine. Der Korridor hier oben beschreibt einen großen Kreis, von dem sechs Büros, die Bibliothek und der Pausenraum abgehen. In der Mitte liegt ein fensterloser Bunker, den Lucy zum Labor für Computertechnik auserkoren hat.
Ich gehe an Marinos Büro vorbei und bleibe vor Zimmer 111 stehen, das er als CentCom – Kommandozentrale – bezeichnet. Ich bin sicher, dass er sich diesen überkandidelten Namen nicht deshalb ausgedacht hat, weil er mich als seine Kommandantin betrachtet, sondern weil er sich inzwischen als Angehöriger eines patriotischen, beinahe sektenähnlichen Ordens fühlt. Dass er alles Militärische vergöttert, ist ein neuer Zug an ihm. Noch ein Widerspruch, als ob Peter Rocco Marinos zerrissene Natur einen weiteren Widerspruch nötig hätte.
Ich muss eine entspanntere Haltung zu ihm entwickeln , sage ich mir, während ich meine schwere, mit Titan verkleidete Tür
aufschließe. So schlimm ist er nicht, und sein Patzer ist auch kein Weltuntergang. Außerdem ist er berechenbar, weshalb ich eigentlich nicht überrascht sein sollte. Marinos Stein von Rosetta ist nicht Bayonne, New Jersey, wo er aufgewachsen ist, sich auf der Straße geprügelt hat, Boxer wurde und schließlich zur Polizei ging. Nicht einmal der Alkoholiker und Taugenichts, den er zum Vater hatte, ist der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit. Marino versteht man am besten, wenn man sich insbesondere seine Mutter und dann seine Sandkastenliebe und inzwischen geschiedene Frau Doris ansieht. Beide Frauen wirken auf den ersten Blick sanft, unterwürfig und reizend, sind aber ganz und gar nicht harmlos. Weit gefehlt.
Ich schalte das in die Streben der globusförmigen Glaskuppel eingelassene Licht an. Die Kuppel spart Energie und erinnert mich jedes Mal, wenn ich nach oben blicke, an Buckminster Fuller. Würde der berühmte Architekt und Erfinder noch leben, er wäre mit meinem Gebäude und vielleicht auch mit mir zufrieden. Allerdings muss ich seiner Auffassung widersprechen, die moderne Technik sei unsere Rettung. Offen gestanden denke ich, dass eher das Gegenteil zutrifft, sie macht uns zumindest nicht zivilisierter.
An der Türschwelle bleibe ich auf dem dunkelgrauen Teppich stehen, als wartete ich auf die Erlaubnis einzutreten. Vielleicht zögere ich ja auch deshalb, weil ich es seit inzwischen fast zwei Jahren vor mir herschiebe, diesen Raum und dieses Leben für mich zu beanspruchen. Wenn ich ehrlich bin, halte ich diese Verzögerungstaktik schon jahrzehntelang durch, nämlich seit meinen Anfangstagen im Walter Reed Army Medical Center, als ich ahnungslos in meinem engen, fensterlosen Büro in der Zentrale des Pathologischen Instituts der Streitkräfte saß, Briggs, ohne anzuklopfen, hereinkam und mir einen grauen A4-Umschlag mit der Aufschrift GEHEIM auf den Schreibtisch warf.
Es war der 4. Dezember 1987. Ich erinnere mich so deutlich daran, dass ich sogar noch beschreiben kann, was ich anhatte, wie das Wetter war und was es zum Lunch gab. Ich
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