Batmans Schoenheit
Aufmerksamkeit, die ein einarmiger Krauler auf sich zog, genügte vollends. Da brauchte es nicht auch noch Haare an der falschen Stelle.
Nur manchmal fragte sich Cheng: »Was will mir mein Arm sagen?«
Aber damit war er ja wahrlich nicht allein, mit dieser gewissen Ratlosigkeit angesichts eines körperlichen Selbst, das da zwanghaft Anomalien entwickelte.
Eine Stunde später stand Cheng am Beckenrand des öffentlichen Schwimmbades, das er in den Sommermonaten aufzusuchen pflegte. Da er stets an den gleichen Tagen zur gleichen Zeit erschien und auch die anderen Benutzer des Sportbeckens zu derartiger Konstanz neigten, kannte man sich vom Sehen. Wie immer wurde Cheng augenblicklich eine der Bahnen überlassen. Nicht, daß er auf einen Behindertenbonus bestand, keinesfalls, aber deswegen eine Diskussion vom Zaun zu brechen, wo doch hier viel eher das Schweigen der Fische angesagt war, unterließ er und nahm dankend an.
Auf einen Kopfsprung freilich verzichtete er, glitt statt dessen ruhig ins Wasser, als füge er sich in ein Cockpit, richtete seine Brille, stieß sich ab und genoß einen Augenblick das Schwebende puren Dahintreibens, bevor er daranging, in das wiegende Hin und Her seiner Kraultechnik zu wechseln. Er machte das schon lange genug, hatte Unterricht genommen und tat sich leicht, einem gleichmäßigen Rhythmus zu folgen, eine auf die lange Strecke zielende Atmung zu praktizieren. Weder schlug er wie ein Irrer um sich, noch sah es aus wie bei manch anderen Älteren, die sich zeitlupenartig ins Wasser einzugraben schienen.
Das Schönste am Schwimmen, vor allem am Kraulen, ist die Ruhe und Leere. Zumindest deren Dominanz, denn die Geräusche von draußen nahm Cheng bald nicht mehr wahr, so, wie er fast immer nur den Grund unter sich sah, die klare, blaue Fläche. In der Künstlichkeit dieses Beckens meinte er die Weite der Ozeane sehr viel stärker zu spüren, als wäre er irgendwo am Strand gestanden, bis zur Brust im trüben Salzwasser und ängstlich nach den nächsten Quallen Ausschau haltend. Zudem wäre er auch zweiarmig kaum in der Lage gewesen, im Stil der Fächerfische die Meere zu durchqueren. Doch im Sportbecken, da erlebte er dieses Gefühl maritimen Reisens, das Gleichförmige, das aus der idealen Form Geborene, die Wanderung, den Instinkt. Klar, es gehört wahrscheinlich wenig Instinkt dazu, im Fünfundzwanzigmeterbecken das andere Ufer nicht zu verfehlen. Aber dennoch spürte Cheng, während er hier schwamm, jene unerhörte Ordnung, die in der meisten Natur vorherrscht.
Wenn man schwimmt, richtig schwimmt, nicht nur planscht oder rodeoartig die Wellen zuzureiten versucht, dann besitzt das die gleiche Qualität wie eine vom Wind getragene Flocke. Und solche Flocken sind dem Fliegen natürlich um einiges näher als jene Leute in Flugzeugen, die ständig an den Luftreglern herumdrehen oder sich um die Armlehnen streiten.
Cheng war bereits eine halbe Stunde auf der Strecke, als er meinte, Schubert zu hören. Schubert, den Komponisten, oder besser gesagt, eine von dessen Kompositionen. Nicht in der üblichen Besetzung, sondern als Klingelton eines Handys. Er selbst, Cheng, war bekanntermaßen kein großer Handyfan, allerdings auch nicht so fanatisch ablehnend wie der legendäre Richard Lukastik, der sein Diensthandy in einem österreichischen Bergsee versenkt und von diesem Moment an kein Mensch mehr im herkömmlichen Sinn gewesen war. – Es gibt einen Film, an dessen Anfang, während die Kamera durch die von lauter telefonierenden New Yorker Passanten frequentierten Straßen fährt, die Stimme aus dem Off erklärt: »Früher war es ein Zeichen von Geisteskrankheit, wenn man Leute sah, die Selbstgespräche führten, heute ist es ein Statussymbol.« Richtig! Darum scheint es in unseren Tagen wiederum als ein Zeichen von Geisteskrankheit, so wie dieser Lukastik sein Handy ins Wasser zu schmeißen.
Nun, Cheng war ja selbst bereits im Wasser. Und wie gesagt, sehr viel weniger verrückt als Richard Lukastik. Auf einer Bank, die nahe dem Becken stand, hatte er ein Handtuch deponiert sowie jenes vor einiger Zeit begonnene Beckett-Frühwerk Traum von mehr bis minder schönen Frauen , das er des charmanten Titels wegen erstanden hatte, ja, das er eigentlich mehr mit sich herumtrug, als darin zu lesen, was möglicherweise ohnehin dem Schicksal der meisten Beckettbücher entsprach. Aber muß man denn an einer Blume riechen, um ihren Wert zu erkennen? Bienen wohl schon, aber nicht unbedingt Menschen.
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