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Bator, Joanna

Bator, Joanna

Titel: Bator, Joanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandberg
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Personen des
gleichen Geschlechts größere Erfahrungen hatte, weil sich auf ihrer früheren
Schule niemand an ihrem Namen und ihrer Langsamkeit gestört hatte, führte Dominika
in die ihr bislang unbekannte Welt der Mädchengespräche über Menstruationen,
Jungen und Küssen ein. Bevor Iwonas Eltern Arbeit in Walbrzych und eine
Wohnung im Babel bekamen, hatte sie bei ihrer Oma in der Gegend von Piotrköw
gewohnt und war jeden Tag vier Kilometer zu der Zweiklassenschule im nächsten
Dorf gegangen, wo ihre Schwerfälligkeit und Neigung zur Geistesabwesenheit
weder auf die überforderte Lehrerin noch auf ihre Schulkameraden Eindruck
machten, denn letztere interessierten sich genauso wenig wie Iwona für das
Geschlechtsleben der Pantoffeltierchen oder den Satzbau. Hast du dich schon mal
mit einem Jungen mit Zunge geküsst? fragte sie Dominika, die fühlte, wie ihr
das Wasser im Munde zusammenlief bei der Vorahnung von etwas so Köstlichem und
Widerwärtigem, etwa wie Tatar mit rohem Ei in der Mitte, wie ihre Mutter es
machte. Man muss den Mund so aufmachen, erklärte Iwona, sie machte einen
Stülpmund wie ein Karpfen und streckte die Zungenspitze heraus. Und man darf
dabei nicht gucken. Wie würde es sein, Zbyszek Lepki so zu küssen mit seinen
Pyramidenjeans und seiner Limahl-Frisur? Sie übten Küssen auf der kalten
Spiegelfläche, besabberten das Spiegelbild ihres eigenen Munds, probierten es
aneinander aus und fuhren kichernd zurück, als eine lebendige Zunge die ihre
berührte. Dominika ging nicht mehr so oft nach der Schule zu Oma Haiina und
mied den alten Weg durch den Busch. Seit Dimitri weggezogen war, hatten die
Gegenden ihrer alten Streifzüge jeglichen Reiz verloren, sie erinnerten sie an
ihren Verlust und an die bittere Tatsache, dass ihr Freund sich weder von ihr
verabschiedet hatte noch jemals schrieb. In jenem einsamen Herbst ging sie
einmal zum See und kletterte auf die Halde hinauf, aber ohne Dimitri war nichts
dort oben auf dem Gipfel — das leere Wägelchen schaukelte quietschend hin und
her, Staub bedeckte die aufgehäuften gläsernen Schätze, die nur noch unförmige
Glasbrocken waren. In einer Wolke aus grauem Staub rannte sie wieder hinunter.
Nachmittags traf sie sich jetzt mit Iwona. Mit Klopfzeichen an der Wand, die
die Standardwohnung der Chmuras von der Standardwohnung der Sledz trennte,
schickten sie einander Botschaften in einem komplizierten Code, den Dominika
sich ausgedacht hatte. Drei Schläge im Abstand von drei Sekunden hieß: ich
komme und hole dich ab, sechs kurze Schläge hießen: komm und sag meiner Mutter,
dass ich dir bei den Aufgaben helfen soll, aber Iwona warf diese Zeichen
dauernd durcheinander. Sie stahlen sich auf die verbotene Dachterrasse, die die
fünfzehn Stiegenhäuser und Eingänge vom Babel miteinander verband, und ließen
Jadzia in dem beruhigenden Glauben zurück, dass sie draußen Gummitwist spielten
oder sich vor dem Haus mit Freundinnen trafen, die sie gar nicht hatten. Krysia
Sledz betrachtete die Welt als einen Ort begrenzter Möglichkeiten und nicht,
wie Jadzia, unbegrenzter Gefahren. Deshalb ging Dominika gern dorthin, wo es
verboten war, und Iwona konnte man leicht überreden, dass ihr das auch gefiel.
Zuerst fuhren sie im Fahrstuhl nach unten und gingen hinaus, um der oben aus
dem Fenster schauenden Jadzia zu winken, dass alles in Ordnung war, dass sie
mit dem Fahrstuhl gefahren waren, ohne dass die Kabel gerissen und er
abgestürzt war und auch ohne von einem Perversen in den Keller gezerrt worden
zu sein wie das Mädchen in Szczawienko, von dem in der Zeitung stand, sie wäre
nur gegangen, um ihrer Mutter Zigaretten zu kaufen, und acht Stunden später
hatte man sie gefunden - erwürgt, blutüberströmt und ohne Unterhosen. Wenn der
blonde Kopf hinter der Gardine verschwunden war, gingen die Mädchen wieder in
den Babel und fuhren mit dem Fahrstuhl zum elften Stock hinauf. Ein paar
Treppenstufen höher stahlen sie sich dorthin, wo der enge Hals eines Flurs
alle Treppenhäuser miteinander verband. Von dort trat man hinaus auf die
eigentliche Terrasse, die sich windgepeitscht und mit Abfall übersät auftat.
    Bevor noch die
Lüftchen der Perestroika wehten, hielt der freie Markt im Babel seinen Einzug,
und die Devisenschieber auf der Terrasse verkauften Dollars. Picklige Beuteltiere
mit Devisentäschchen, die so fest an den Bauch geschnallt waren, dass die
Hautfalten darüberlappten, zählten hingebungsvoll dem einen fünf auf die Hand,
dem anderen zehn.

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