Bator, Joanna
zum Zeitvertreib zwischen den
Fingern knetet. Der Zirkus kam noch einmal ins Dorf, als Stefan schon auf seinen
vom Vater geerbten O-Beinchen ging und unreife Erbsen, Sauerampferblätter,
Feldsteine, steinharte Mirabellen, Melde und Regenwürmer in den ewig hungrigen
Mund steckte. Haiina färbte sich die Wangen rot, legte die Ohrringe mit den
hellblauen Steinchen an und setzte sich an den Küchentisch, doch die Stunden
vergingen und niemand fuhr vor, es kam noch nicht einmal jemand zu Fuß. Da
lief sie auf die Wiese, wo die bunten Zelte und Buden aufgebaut wurden, doch
niemand im Zirkus hatte je von Wowka gehört, obwohl der Bär immer noch der alte
zu sein schien, höchstens ein bisschen räudiger und erstaunter, als könnte er
immer noch nicht begreifen, warum er beim Walzer genauso tanzte wie damals, als
er ein Bärchen war und beim Walzerchen ein glühendes Blech unter den Füßen hatte
anstatt Gras oder Schnee. Haiina blieb, ähnlich wie der Bär, einsam im Regen
stehen.
Als nun Wladek Chmura, ein
ernstzunehmender Witwer mit anständigem Beruf, an einem Maiennachmittag auf
seinem zweirädrigen Pferdewagen vorfuhr, fragte niemand danach, ob sie mit ihm
gehen und später dann, ob sie ihn heiraten wollte. Der Schmied nahm den fast
zweijährigen Stefan auf den Arm, der immer noch nicht größer war als ein
ausgewachsener Gockelhahn, und dachte, dem Bankert fehle einfach der Vater,
deshalb sei er so ein erbärmlicher Jämmerling. Wenn er ihn an Sohnes statt annehme,
werde der Kleine bestimmt noch wachsen, und außerdem werde es ihm nicht
schlecht bekommen, wenn er jeden Morgen frischen Rahm trinken kann. Man kam
überein, dass Haiina zwei Satz Bettzeug bekommen würde, zwei Kelim-Läufer, ein
Kopfkissen sowie die Federn für ein Oberbett, das sie allerdings noch selbst
würde machen müssen, und die magere Großmutter, die als Einzige der Enkelin
und ihrem Bankert ein wenig Herz gezeigt hatte, weil es ihr dicht an der
Oberfläche schlug, gleich unter Haut und Knochen, kramte noch irgendwo ein Medaillon
mit der Ostrobramer Madonna hervor, das sollte sie jetzt, wo ein Mann sie
genommen hatte, vor Bösem beschützen. Als das Leben von Haiina, Wladek und dem
Kind langsam in die ihnen eigenen Geleise kommen wollte, blähte sich die Welt
auf wie ein Ballon und zerplatzte. Stalin, Hitler, das ganze Durcheinander des
Krieges rissen das auf Haiina noch nicht fertig zugeschnittene Leben mit dem
Schmied in Fetzen, dass ihr Hören und Sehen verging. Sie wurde zu einem unter
vielen Umsiedlern, ein Wort, zu dem es im Polnischen nicht mal eine gebräuchliche
weibliche Form gab, die man mit entsprechenden schneiderischen Fähigkeiten so
zuschneiden konnte, dass sie die Blöße bedeckte. Da Haiina mit sich selbst
nichts anzufangen wusste, konzentrierte sie sich auf Stefan, der noch klein
genug war, um vom unehelichen Czeladz auf den ehelichen Chmura gewendet zu
werden. Das Ehepaar Chmura hatte einen Beamten bestochen, und in den Dokumenten
wurden fast vier Jahre von Stefans Alter abgeschnipselt, die Anzahl seiner
Lenze wurde sozusagen auf sein Mikro-Aussehen zurechtgestutzt, und Stefan lebte
fortan mit neuem Alter und Namen. Haiina hoffte, sie könnte auf diese Weise,
mit dieser dem Kind praktisch geschenkten Zeit, die schlimme Zeit im Haus von
Onkel Franciszek wettmachen, als wäre Zeit etwas, das sich aus Läppchen frommer
Wünsche und verspäteter Reue zusammenstoppeln ließe. Die Leute in Walbrzych,
wo sie als Familie Chmura eintrafen, sagten: Der ist aber groß! So ein großer
Junge für sein Alter!, und Haiina verspürte zum ersten Mal den Kitzel
mütterlichen Stolzes. Als sie Stefan in den wiedergewonnenen Gebieten zum
zweiten Mal zur Welt gebracht hatte, dachte sie, ihr bliebe jetzt nichts mehr
zu tun, und sie begann zu welken.
Haiinas größte Leidenschaft wurde
das Zigarettenrauchen, angefangen von dem russischen Tabak in Zeitungspapier,
den sie Wladek weggenommen hatte, als sie sich an den Tisch in ihrer ehemals
deutschen Wohnung in Walbrzych setzten. Viele Jahre später dreht ihre Enkelin
ihr einen dicken Joint, und Haiina kommen fast die Tränen, so leid tut es ihr,
dass sie das ganze Leben lang jede x-beliebige Scheiße geraucht hat, während es
doch so wunderbare ausländische Zigaretten gibt. Die erste Zigarette des Tages
zündete sie sich an, sobald sie in dem großen Holzbett aufwachte, das Deutschen
gehört hatte, unter dem Bild von Jesus als Hirte mit Wangenrouge und karminroten
Lippen, auch er hatte Deutschen
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