BattleTech 24: Auge um Auge
Schneide ist.
Das im Draconis-Kombinat vorherrschende Bild des Lächelnden war das eines gütigen Ästheten mit erlesenem Geschmack und vollendeten Manieren, eines Mannes, der manchmal Schulkindern den Kopf tätschelte, wenn sie ihn in seinen ausgedehnten Gärten besuchten, um ihm Gedichte vorzulesen, die sie zum Ruhme des Koordinators geschrieben hatten. Außerhalb des Kombinats wurde allgemein angenommen, Indrahar sei dann am glücklichsten, wenn er diese glücklichen Schulkinder in einem Topf kochen konnte. Selbst Liaos gefürchtete Maskirovka sah ihn so und bewunderte ihn dafür nur um so mehr.
Ninyu Kerai kannte die Wahrheit. Sein Adoptivvater würde diese Schulkinder ohne mit der Wimper zu zucken kochen, wenn es seine Pflicht dem Drachen gegenüber erforderte. Aber es würde ihm keinen Spaß machen. Giri ist wichtiger als ninjo; Pflicht geht vor menschlichen Gefühlen. Das war das Gesetz des Drachen.
Doch Subhash bedrängte seinen Erben ständig, diese menschlichen Gefühle nicht zu vernachlässigen. Ninyu begriff das nicht ganz. Aber sein Vater bat ihn darum, und er gehorchte. So lernte er den Sonnenuntergang und die salzige Gischt und den Duft der Hachimanveilchen schätzen.
Aber nicht so sehr, daß er nicht sofort das Scharren eines Schuhs auf den Pflastersteinen bemerkt hätte. Etwas klickte, hielt inne, klickte wieder, als versuchte jemand das Zirpen der Grillen mit einem Paar Gabeln zu imitieren. Er schnitt eine Grimasse und spürte, wie sich die Muskeln zwischen seinen Schulterblättern anspannten. Gerade als er begann, jene Heiterkeit zu erfassen, zu der ihn sein Adoptivvater hinführen wollte, da kam der verhaßte Katsuiyama und verdarb sie.
Er drehte sich um, und da war er, bekleidet mit einem lächerlichen Barett und einem Kittel. In seiner Hand war etwas, das an einen Chronometer erinnerte, doch statt einer Digitalanzeige waren am Rand entlang kleine Punkte, Zahlen und schlanke Zeiger angeordnet.
Ninyu Kerai unterdrückte seinen Zorn über die Störung. In der Vergangenheit hat dir dein Zorn als wunderbare Waffe gedient, Adoptivsohn, hatte Subhash zu ihm gesagt. Doch er kann sich in deiner Hand wenden und dich wie eine Muramasaklinge schneiden. Er ist ein Diener, der leicht zum Herrn werden kann. Die Zeit ist gekommen, daß du lernst, ihn abzulegen.
Ninyu versuchte es. Aber er hatte Enrico Katsuyama auf den ersten Blick gehaßt.
»Was haben Sie da, Beigeordneter Direktor?« bellte er.
Katsuyama hielt ihm das Gerät vors Gesicht, drückte auf den obersten Knopf. Ninyu widerstand dem Impuls, es zu packen und über die Klippe ins Meer zu schleudern. Er beobachtete, wie der schmälste Zeiger sich rasch und der mittlere langsamer im Kreis drehten. »Es ist eine Stoppuhr«, sagte der schwerfällige Mann.
»Lächerlich. Wie sollte man so ein Ding je ablesen?«
Katsuyama drehte es um, sah es an, als hätte er es gerade unter einem Blatt im Garten gefunden. »Diese Zeiger drehen sich und zeigen die Zeit an.«
Ninyu blickte finster. »Sie scherzen.«
»Nein, nein, wirklich. Das ist eine ganz besondere Stoppuhr. Sie ist fast tausend Jahre alt. Sie wurde beim Abspann und in den Rahmensequenzen der alten terranischen Flachbildshow 60 Minutes verwendet.«
»Tatsächlich«, grunzte Ninyu. Er hatte eigentlich keine Ahnung, was er jetzt passenderweise sagen konnte, aber er wollte verdammt sein, wenn er sich von dieser Kröte vorführen ließ.
Katsuyama nickte enthusiastisch mit dem Kopf. Feuchtigkeit glitzerte in den Ecken seines Schnurrbarts, wie Ninyu angeekelt bemerkte, als hätte er darauf herumgekaut.
»Es ist die neueste Bereicherung meiner Sammlung«, sagte Katsuyama. »Ich habe Josef Goebbels' Mikrophon, eine einen halben Meter hohe Statue von Mickey Maus, Indiana Jones' Filzhut und den Pullover, den Franklin Roosevelt bei seinen Kamingesprächen trug, auch wenn ich argwöhne, daß es sich dabei um eine Nachbildung handelt. Alles aus dem zwanzigsten Jahrhundert.«
»Warum die Obsession für diese bestimmte Ära?« fragte Ninyu, der keine Ahnung hatte, wovon Katsuyama redete.
»Aber diese Zeit sah das Heraufdämmern der Ära der Massenkommunikation!«
Ninyus Augen wurden schmal. »Und?«
»Also sah sie auch die Morgendämmerung der Medienmanipulation. Josef Goebbels entdeckte als erster das Prinzip der Großen Lüge, auf dem alle öffentliche Meinungsmache basiert. Meine Reliquien sind Artefakte aus dem Besitz von Herrn Goebbels und anderen Größen der Kunst, die sich darauf spezialisiert hatten, die
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