Baudolino - Eco, U: Baudolino
langer Zeit waren ein gewisser Galbius und ein gewisser Candidus nach Palästina gepilgert und hatten in Kapharnaum erfahren, dass dort im Hause eines Juden das Pallion der Jungfrau aufbewahrt wurde. Sie freundeten sich mit ihm an, verbrachten die Nacht bei ihm, nahmen heimlich die Maße der Truhe, in der das Kleid lag, ließen sich in Jerusalem eine ganz ähnliche Truhe machen, kehrten zurück nach Kapharnaum, vertauschten nachts die Truhen und brachten das Kleid nach Konstantinopel, wo dann extra dafür die Kirche der Apostel Petrus und Markus gebaut wurde.«
Boiamondo fügte hinzu, zwei christliche Ritter sollten angeblich zwei Häupter Johannes' des Täufers entwendet haben, ohne sie bisher zurückzugeben, jeder von ihnen eines, und alle Welt frage sich nun, welches von beiden das echte sei. Niketas lächelte verständnisvoll. »Ich wusste, dass hier in der Stadt zwei Johanneshäupter verehrt wurden. Das erste war von Theodosios dem Großen hergebracht und in die Kirche des Vorläufers Jesu gegeben worden. Aber dann hatte Justinian ein zweites in der syrischen Stadt Emesa gefunden. Ich glaube, er hatte es einem Kloster geschenkt, es soll dann später wieder in die Stadt gekommen sein, aber niemand wusste mehr, wo es war.«
»Wie kann man denn eine Reliquie einfach vergessen, noch dazu eine so kostbare?« fragte Baudolino.
»Die Frömmigkeit des Volkes ist eine flatterhafte Angelegenheit. Jahrelang verehrt man voller Inbrunst einen heiligen Überrest, und plötzlich begeistern sich alle für etwas Neues, das noch wunderbarer erscheint, und das Alte wird schlicht vergessen.«
»Aber welches der beiden Häupter ist denn nun das echte?« fragte Boiamondo.
»Wenn man von heiligen Dingen spricht, darf man keine menschlichen Maßstäbe anlegen. Gleich welche der beiden Reliquien du mir hinhieltest, ich versichere dir, ich würde, wenn ich mich vorbeugte, um sie zu küssen, den mystischen Geruch wahrnehmen, den sie ausströmt, und würde wissen, dass es sich um das echte Haupt handelt.«
In diesem Augenblick kam auch Pevere aus der Stadt zurück. Außergewöhnliches sei dort im Gange, berichtete er. Um zu verhindern, dass die leer ausgegangene Soldateska sich etwas vom Haufen in der Hagia Sophia nahm, hatte der Doge eine erste rasche Bestandsaufnahme der aufgehäuften Dinge angeordnet, und man hatte auch einige griechische Mönche hinzugezogen, um die verschiedenen Reliquien zu erkennen. Dabei war herausgekommen, dass, nachdem man den größten Teil der Pilger gezwungen hatte, ihre Beute herauszurücken, sich nicht nur zwei Johanneshäupter in der Kirche befanden, was man ja schon wusste, sondern auch zwei Schwämme für den Essig, zwei Dornenkronen und manches mehr. Ein Wunder, feixte Pevere und schielte zu Baudolino, die kostbarsten Reliquien von Byzanz hatten sich vervielfacht wie die Brote und Fische. Einige der Pilger sahen darin ein Zeichen des Himmels zu ihren Gunsten und riefen, wenn nun an diesen seltenen Gütern solch ein Überfluss herrsche, hätte der Doge erlauben müssen, dass jeder nach Hause trage, was er sich genommen habe.
»Aber es ist ein Wunder zu unseren Gunsten«, sagte Theophilos, »denn so werden die Lateiner nicht mehr wissen, welche Reliquien echt sind, und werden gezwungen sein, alles hierzulassen.«
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Baudolino. »Jeder Fürst oder Markgraf oder Vasall wird froh sein, sich eine Reliquie mit nach Hause zu nehmen, die Scharen von frommen Verehrern anlockt und Schenkungen nach sich zieht. Wenn dann gemunkelt wird, es gebe eine ganz ähnliche in tausend Meilen Entfernung, wird man sagen, die sei falsch.«
Niketas war nachdenklich geworden. »Ich glaube nicht an dieses Wunder«, sagte er. »Der Herr verwirrt unsere Sinne nicht mit den Überresten seiner Heiligen ... Baudolino, könnte es sein, dass du hier in letzter Zeit, seit du in die Stadt gekommen bist, irgendeinen Schwindel mit Reliquien angestellt hast?«
»Kyrios Niketas!« versuchte Baudolino in beleidigtem Ton zu sagen. Dann streckte er die Hände vor, wie um seinen Gesprächspartner zu beruhigen. »Nun, wenn ich dir denn die volle Wahrheit sagen soll ... tja, der Moment wird kommen, da ich dir auch eine Geschichte von Reliquien werde erzählen müssen. Aber das werde ich erst später tun. Und außerdem, hast du nicht selber vorhin gesagt, wenn man von heiligen Dingen spreche, dürfe man keine menschlichen Maßstäbe anlegen? Doch jetzt ist es spät geworden, ich denke, in einer Stunde, wenn
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