Baudolino - Eco, U: Baudolino
erschrocken davonliefen. Aber dann kamen sie zurück und fingen wieder an zu wispern, zunehmend erstaunt über diese Invasion.
Mit einem Mal spürte der Poet, wie er von einer Hand gestreift wurde oder eher von einer pelzigen Pfote. Blitzschnell packte er zu und hielt etwas fest, und im gleichen Moment ertönte ein Schreckensschrei. Der Poet ließ los, und die Stimmen der Waldbewohner wichen ein Stück weit zurück, als hätten sie ihren Kreis um die Eindringlinge etwas vergrößert, um in gebührender Entfernung zu bleiben.
Einige Tage lang geschah nichts. Die Reisenden zogen weiter, und die Abkasianer begleiteten sie, und vielleicht waren es nicht dieselben wie in den ersten Tagen, sondern andere, denen ihr Durchzug angekündigt worden war. Tatsächlich hörten die Reisenden eines Nachts (war es Nacht?) etwas wie ein Trommeln, als schlüge jemand rhythmisch auf einen hohlen Baumstamm. Es war ein dumpfes Geräusch, aber es verbreitete sich durch den ganzen Raum ringsumher, vielleicht meilenweit, und sie begriffen, dass es die Methode war, mit der die Abkasianer einander über weite Entfernungen mitteilten, was sich in ihrem Wald ereignete.
Mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihre unsichtbaren Begleiter. Und sie gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit, so dass auch Abdul, der besonders unter den Strahlen der Sonne gelitten hatte, sich wieder besser fühlte, fast kaum noch Fieber hatte und auf seine Lieder zurückkam. Eines Abends (war es Abend?), während sie sich am Feuer wärmten, holte er sein Instrument aus der Satteltasche und fing wieder an zu singen:
Iratz e gauzens m'en partrai,
Qan veirai cest'amor de loing;
Mas non sai coras la-m veirai,
Car trop son nostras terras loing.
Assatz hi a portz e camis,
E per aisso no-n sui devis ...
Mas tot sia cum a Dieu platz!
Traurig und glücklich werde ich ziehen,
Wenn ich meine ferne Liebe gesehen;
Doch weiß ich nicht, wann das je wird geschehen,
Zu fern voneinander sind unsere Länder.
So viele Häfen, so viele Wege,
Drum kann ich es nicht erraten ...
Doch alles geschehe nach Gottes Wille.
Die Abkasianer, die bis dahin pausenlos überall ringsum gewispert hatten, waren verstummt. Still hatten sie Abduls Lied zugehört, dann versuchten sie ihm zu antworten: Aus hundert Lippen (waren es Lippen?) erklang ein Flöten und Zwitschern wie von Amseln, das die von Abdul gespielte Melodie wiederholte und variierte. So gelangten sie zu einer Verständigung ohne Worte mit ihren Gästen, und in den folgenden Nächten unterhielten sie sich miteinander, die einen singend und die anderen, als spielten sie auf Flöten. Einmal stimmte der Poet eines jener derben Tavernenlieder an, die in Paris sogar die Kellnerinnen erröten ließen, und Baudolino fiel mit ein. Die Abkasianer antworteten nicht, aber nach einer langen Stille begannen zwei oder drei von ihnen wieder, Abduls Melodien zu modulieren, als wollten sie sagen, diese sind schön und angenehm, nicht die anderen. Damit bekundeten sie, wie Abdul fand, echtes Zartgefühl und die Fähigkeit, gute von schlechter Musik zu unterscheiden.
Als einziger von den Abkasianern ermächtigt, mit ihnen zu »sprechen«, fühlte sich Abdul wie neu geboren. Wir sind im Reich der Zärtlichkeit, sagte er, also nicht weit von meinem Ziel. Los, gehen wir hin! Nein, erwiderte der Boidi ganz verzaubert, warum bleiben wir nicht hier? Gibt es einen schöneren Platz auf der Welt als diesen, wo man, selbst wenn hier etwas hässlich ist, es nicht sieht?
Auch Baudolino sagte sich, dass ihn, nachdem er so viele Dinge in der weiten Welt gesehen hatte, diese langen Tageim Dunkeln zur Ruhe gebracht, ja mit sich selbst versöhnt hatten. Im Dunkeln kehrte er zu seinen Erinnerungen zurück und dachte an seine Kindheit, an seinen Vater und seine Mutter, an die sanfte unglückliche Colandrina. Eines Abends (war es Abend? Ja, denn die Abkasianer schliefen still), als er keinen Schlaf fand, machte er ein paar Schritte und berührte mit den Händen die Blätter der Bäume, als ob er etwas suchte. Plötzlich stieß er auf eine Frucht, die sich weich anfühlte und köstlich duftete. Er brach sie ab und biss hinein, und sofort fühlte er sich von einem sehnsuchtsvollen Verlangen durchdrungen, so dass er nicht mehr wusste, ob er träumte oder wachte.
Auf einmal sah er – oder besser, fühlte er ganz in der Nähe, als ob er sie sähe – Colandrina. »Baudolino, Baudolino«, rief sie mit mädchenhafter Stimme, »bleib nicht da, wo du bist,
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