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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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menschliches Wesen geboren hatte, dass aber der Gottessohn – also der Logos, der nicht Fleisch werden konnte – durch sie nur hindurchgeströmt sei wie Wasser durch eine Röhre, vielleicht sei er auch durch ein Ohr in sie eingedrungen. Andieser Stelle brach ein Sturm von Protesten los, und viele schrien »Paulikianer! Bogomile!« – womit sie ausdrücken wollten, dass der Betreffende eine häretische Lehre vorgebracht habe, und tatsächlich wurde er aus dem Tempel gejagt. Ein dritter erkühnte sich zu der These, dass derjenige, der am Kreuz gelitten hatte, Simon von Kyrene gewesen sei, der Jesus im letzten Moment ersetzt habe, wogegen die anderen einwandten, dass es, um jemand ersetzen zu können, diesen Jemand erst einmal geben müsse. Nein, erwiderte der Sprecher, der Jemand, der da ersetzt worden sei, sei eben genau der Jesus als Phantasma gewesen, der als solches nicht habe leiden können, und ohne Passion hätte es keine Erlösung gegeben. Erneuter Proteststurm, denn wer so rede, behaupte, dass die Menschheit durch den armen Simon von Kyrene erlöst worden sei. Ein vierter Gläubiger erinnerte daran, dass der Logos, also das Wort Gottes, während der Taufe am Jordan in Gestalt einer Taube in den Leib Jesu gefahren sei, aber es war klar, dass man auf diese Weise das Wort mit dem Heiligen Geist verwechselte und dass der von diesem durchdrungene Leib kein Phantasma war – und warum sollten sich dann die Blemmyer, wie sie es zu Recht taten, als phantasiastoi bezeichnen?
    Von der Debatte mitgerissen, meldete sich an dieser Stelle der Poet zu Wort und fragte: »Aber wenn der nicht fleischgewordene Sohn bloß ein Phantasma war, warum spricht er dann im Garten Gethsemane so verzweifelte Worte, und warum beklagt er sich am Kreuz? Was kümmert es ein göttliches Phantasma, ob man ihm Nägel in einen Leib schlägt, der bloße Erscheinung ist? Hat er nur eine Szene gemacht, wie ein Schauspieler?« Der Poet hatte das eigentlich nur gefragt, weil er dachte, er könne durch Bezeugung von Scharfsinn und Durst nach Erkenntnis die Blemmyerfrau verführen, auf die er ein Auge geworfen hatte, aber die entgegengesetzte Wirkung trat ein. Die ganze Gemeinde schrie auf: »Anathema! Anathema!«, und unsere Freunde begriffen, dass der Moment gekommen war, die Versammlung fluchtartig zu verlassen. So war es dem Poeten aufgrund übertriebener theologischerSpitzfindigkeit misslungen, seine drängende fleischliche Leidenschaft zu befriedigen.
     
    Während Baudolino und die anderen Christen sich diesen Erfahrungen widmeten, befragte Solomon die Einwohner von Pndapetzim einen nach dem anderen, ob sie etwas von den zehn verstreuten Stämmen wüssten. Gavagais am ersten Tag gemachte Bemerkung über die Rabbiner hatte ihm gesagt, dass er auf dem richtigen Weg war. Doch ob nun die Monster der verschiedenen Rassen wirklich nichts wussten, oder ob das Thema mit einem Tabu belegt war, jedenfalls gelang es Solomon nicht, irgend etwas herauszubekommen. Schließlich sagte ihm einer der Eunuchen, jawohl, der Tradition nach seien Gruppen von Juden durch das Reich des Priesters Johannes gezogen, vor vielen Jahrhunderten sei das gewesen, aber dann hätten sie beschlossen weiterzuziehen, vielleicht aus Furcht, dass die angedrohte Invasion der Weißen Hunnen sie zu einer neuen Diaspora zwingen könnte, und Gott allein wisse, wohin sie gezogen seien. Solomon kam jedoch zu dem Schluss, dass der Eunuch log, und wartete weiter darauf, endlich in jenes Reich zu kommen, wo er seine Glaubensbrüder bestimmt finden würde.
    Manchmal versuchte Gavagai, seine Schutzbefohlenen zum richtigen Denken zu bekehren. Der Vater sei doch unbestreitbar das Vollkommenste und am weitesten von uns Entfernte, was es im Universum geben könne, nicht wahr? Wie könne er dann einen Sohn gezeugt haben? Die Menschen zeugten Söhne, um in ihren Nachkommen weiterzuleben, auch noch in jener Zeit, die sie nicht mehr selber erleben würden, weil ihr Tod dazwischengekommen sei. Aber ein Gott, der es nötig habe, einen Sohn zu zeugen, wäre nicht schon von Anbeginn aller Zeiten vollkommen. Und wenn der Sohn schon immer zusammen mit dem Vater existiert hätte, als Teil derselben göttlichen Substanz oder Natur oder wie immer man das nennen wolle (hier geriet Gavagai durcheinander und nannte griechische Begriffe wie ousia, hypostasis, physis und hyposopon , die auch Baudolino nicht klar auseinanderhalten konnte), dannhätten wir den unglaublichen Fall, dass ein Gott, der qua Definition

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