Baudolino - Eco, U: Baudolino
damit er nicht dachte, es sei alles nur ein Zirkusspiel mit überall knatternden Fahnen, Wappen, bunten Zelten, Händlern und Gauklern –, hatte Friedrich auf dem linken Ufer des Po ein typisches römisches Lager errichten lassen, um daran zu erinnern, dass seine Würde aus Rom kam. In der Mitte dieses Lagers stand das kaiserliche Zelt wie ein Tempel, und wie ein Kranz umgaben es die Zelte der Lehnsherren, Vasallen und Valvassoren. Bei Friedrich befanden sich der Erzbischof von Köln, der Bischof von Bamberg, Daniel von Prag, Konrad von Augsburg und andere mehr. Am rechten Po-Ufer lagerten die Italiener, der Gesandte des Apostolischen Stuhls, der Patriarch von Aquileia, der Erzbischof von Mailand, die Bischöfe von Turin, Alba, Ivrea, Asti, Novara, Vercelli, Tortona, Pavia, Como, Lodi, Cremona, Piacenza, Reggio, Modena, Bologna und Gott weiß wer noch. Als Präses dieser majestätischen und wahrhaft universalen Versammlung eröffnete Friedrich die Debatte.
Um es kurz zu machen – sagte Baudolino, denn er wollte Niketas nicht mit den Meisterwerken der kaiserlichen, rechtswissenschaftlichen und kirchlichen Redekunst langweilen –, vier Doktoren aus Bologna, die berühmtesten, Schüler des großen Irnerius, waren vom Kaiser gebetenworden, eine unanfechtbare Lehrmeinung über seine Machtbefugnisse abzugeben, und drei von ihnen, Bulgarus, Jacopus und Hugo von Porta Ravegnana, hatten sich so geäußert, wie Friedrich es wollte, nämlich das Recht des Kaisers aus dem römischen Recht abgeleitet. Anderer Ansicht war lediglich ein gewisser Martinus.
»Dem Friedrich dann wohl die Augen ausstechen ließ«, kommentierte Niketas. »Aber nein, nicht doch!« erwiderte Baudolino. »Ihr Romäer stecht diesem und jenem die Augen aus und versteht nicht mehr, wo das Recht ist, weil ihr euren großen Justinian vergessen habt. Gleich darauf verkündete Friedrich die Constitutio Habita , womit er die Autonomie der Rechtsschule von Bologna anerkannte, und wenn die Rechtsschule autonom war, konnte Martinus sagen, was er wollte, und nicht einmal der Kaiser hätte ihm deswegen ein Haar krümmen können. Denn wenn er es getan hätte, wären die Doktoren ja nicht mehr autonom gewesen, und wenn sie nicht autonom wären, hätte ihr Urteil keinerlei Wert und Friedrich liefe Gefahr, als Usurpator zu gelten.«
Ausgezeichnet, dachte Niketas, dieser Baudolino will mir zu verstehen geben, er habe faktisch das Reich begründet und seine Macht sei so groß, dass er einen beliebigen Satz bloß auszusprechen brauche, schon werde er wahr. Hören wir uns den Rest an.
In der Zwischenzeit hatten die Genueser einen Korb mit Obst hereingebracht, denn es war Mittag geworden, und Niketas musste sich ein wenig stärken. Sie hatten gesagt, dass die Plünderung weitergehe, weshalb es besser sei, noch im Hause zu bleiben. Baudolino erzählte weiter.
Friedrich kam also zu dem Schluss: Wenn ein noch fast bartloser Jüngling, erzogen von einem Trottel wie Rahewin, schon so scharfsinnige Ideen hatte, was würde dann erst aus ihm werden, wenn man ihn wirklich zum Studieren nach Paris schickte? Er umarmte ihn väterlich und empfahl ihm, ein wirklicher Gelehrter zu werden, nachdem er selbst wegen der Regierungsgeschäfte und der militärischenUnternehmungen nie die Zeit gehabt habe, sich gebührend zu bilden. Die Kaiserin gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn – wir stellen uns Baudolinos Entzücken vor – und sagte zu ihm (denn diese wunderbare Frau konnte, obwohl sie eine große Dame und Kaiserin war, auch lesen und schreiben): »Und schreib mir gelegentlich, berichte mir, wie es dir geht und was du so treibst. Das Leben ist kurz und eintönig. Deine Briefe werden mir ein Trost sein.«
»Ich werde schreiben, ich schwöre es«, versicherte Baudolino mit einer Inbrunst, die die Umstehenden hätte stutzig machen müssen. Aber niemand fasste einen Verdacht – wen wundert schon die Erregtheit eines Jünglings, der im Begriff ist, nach Paris zu gehen –, außer vielleicht Beatrix selbst. Tatsächlich sah sie ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und ihr milchweißes Antlitz überzog sich mit einer plötzlichen Röte. Doch Baudolino hatte bereits mit einer Verbeugung, die ihn zwang, zu Boden zu blicken, den Saal verlassen.
6. Kapitel
Baudolino geht nach Paris
Baudolino kam ein bisschen verspätet nach Paris, denn in jene Schulen trat man damals nicht selten noch vor dem vierzehnten Lebensjahr ein, und er war schon zwei Jahre älter. Aber
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