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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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mit denen man die geschlachteten Tiere aufhängt, sogleich aus dem Fenster zu springen versucht. Doch während er noch die Höhe abschätzte, fing er sich rechtzeitig vor dem Absprung einen Hieb ein, der seine Wange für immer mit einer Narbe zierte, die eines Kriegsmannes würdig gewesen wäre.
    Im übrigen geschah es auch nicht alle Tage, dass man weniger vornehme Damen eroberte, es verlangte geduldiges Warten (zum Schaden der Vorlesungen) und ganze Tage auf der Lauer am Fenster, wobei naturgemäß Langeweile aufkam. Wurde diese zu groß, gab man die Verführungsträume auf und goss Wasser auf die Passanten oder beschoss die Damen durch ein Blasrohr mit Erbsen oder rief den vorbeigehenden Magistern Spottnamen nach, und wenn diese sich dann empörten, verfolgte man sie in Grüppchen bis zu ihrem Haus und warf Steine an ihre Fenster, denn die Studenten waren ja schließlich diejenigen, die sie bezahlten, und hatten daher gewisse Rechte.
     
    Baudolino war faktisch dabei, Niketas zu erzählen, was er Beatrix verschwiegen hatte, nämlich dass er sich anschickte,einer jener Scholaren zu werden, die in Paris die artes liberales studierten oder in Bologna die Jurisprudenz oder in Salerno die Medizin oder in Toledo die Magie, die aber nirgendwo lernten, wie man sich wohlgesittet benahm. Niketas wusste nicht recht, ob er sich darüber empören, wundern oder amüsieren sollte. In Byzanz gab es nur private Schulen für Söhne wohlhabender Familien, man lernte dort ab dem zartesten Kindesalter Grammatik und las fromme Schriften sowie die Meisterwerke der Klassiker, ab dem elften Lebensjahr studierte man Poesie und Rhetorik, um zu lernen, Texte nach den literarischen Vorbildern der Antike zu schreiben, und je seltener die Begriffe waren, die man verwendete, je komplexer die syntaktischen Strukturen, desto mehr galt man als geeignet für eine leuchtende Zukunft in der kaiserlichen Verwaltung. Danach aber wurde man entweder Gelehrter in einem Kloster, oder man studierte bei Privatlehrern Dinge wie Recht oder Astronomie. Aber man studierte ernsthaft, anders als in Paris, wo die Studenten offenbar alles mögliche trieben, bloß nicht studierten.
    Baudolino korrigierte ihn: »So kann man das nicht sagen. In Paris wurde hart gearbeitet. Zum Beispiel nahm man nach den ersten Jahren bereits an Disputen teil, und im Disput lernt man, Einwände vorzutragen und zu einer determinatio zu gelangen, das heißt zur definitiven Lösung einer Frage. Und du darfst auch nicht meinen, die Vorlesungen seien das wichtigste für einen Studenten und die Taverne sei nur ein Ort, wo man seine Zeit vertut. Das Schöne am Studium ist, dass man zwar auch von den Magistern lernt, aber mehr noch von den Mitstudenten, besonders den älteren, wenn sie dir erzählen, was sie gelesen haben, und du entdeckst, dass die Welt voll wunderbarer Dinge sein muss, die du alle kennenlernen möchtest, wozu dir jedoch – da das Leben zu kurz ist, um in alle Länder der Erde zu reisen – gar nichts anderes übrig bleibt, als alle Bücher zu lesen.«
    Baudolino hatte schon viele Bücher bei Otto gelesen, doch er hätte sich niemals träumen lassen, dass es so viele auf der Welt geben könnte wie in Paris. Sie waren nicht fürjedermann zugänglich, aber sein guter Stern oder vielmehr sein fleißiger Besuch nicht nur der Tavernen, sondern auch der Vorlesungen führte ihn mit Abdul zusammen.
     
    »Um dir zu erklären, Kyrios Niketas, was Abdul mit den Bibliotheken zu tun hatte, muss ich einen Schritt zurückgehen. Also, eines Morgens, während ich eine Vorlesung hörte, wie immer auf meine Finger hauchend, um sie zu wärmen, und mit frierendem Hintern, denn das Stroh schützte wenig vor dem kalten Boden, der eisig war wie ganz Paris in jenen Wintertagen, beobachtete ich unweit von mir einen Jungen, der seiner Hautfarbe nach ein Sarazene zu sein schien, aber er hatte rotes Haar, was bei den Mauren nicht vorkommt. Ich weiß nicht, ob er der Vorlesung folgte oder seinen Gedanken nachhing, jedenfalls ging sein Blick ins Leere. Ab und zu zog er schuddernd seine Kleider um sich zusammen, dann starrte er wieder vor sich hin, und manchmal kritzelte er etwas auf seine Tafel. Ich reckte den Hals und sah, dass es zum Teil jene Fliegendreckkrakel waren, die das arabische Alphabet darstellen, und zum Teil eine Sprache, die Latein zu sein schien, es aber nicht war und mich sogar ein wenig an die Dialekte meiner Heimat erinnerte. Kurz und gut, am Ende der Vorlesung sprach ich ihn an, er

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