Baudolino - Eco, U: Baudolino
sie dann mit dem größten der hölzernen Türme, den die Cremoneser gebaut hatten, zum Angriff schritten und die Belagerten anfingen, mit ihren Wurfmaschinen so viele Steine zu schleudern, dass der Turm umzufallen drohte, geriet der Kaiser in Rage. Er ließ Kriegsgefangene aus Crema und Mailand vorn und seitlich an den Turm binden, denn er dachte, wenn die Belagerten ihre Brüder, Vettern, Söhne und Väter da vor sich sähen, würden sie nicht zu schießen wagen. Er hatte nicht bedacht, wie sehr auch die Cremeser inzwischen in Rage waren, sowohl diejenigen auf den Mauern wie auch diejenigen, die außen vor den Mauern an den Turm gebunden waren. Letztere nämlich riefen ihren Brüdern zu, sich nicht um sie zu kümmern, und die auf den Mauern fuhren fort, mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen in den Augen, als Henker ihrer eigenen Verwandten den Turm zu beschießen, wobei sie neun der Ihren töteten.
Studenten aus Mailand, die nach Paris kamen, schworen Baudolino, es seien auch kleine Kinder an den Turm gebunden gewesen, aber der Poet versicherte ihm, das sei nur ein bösartiges Gerücht. Tatsache ist, dass an diesem Punkt auch der Kaiser beeindruckt war und die restlichenGefangenen losbinden ließ. Aber Cremeser und Mailänder, außer sich vor Wut über das Ende ihrer Kameraden, griffen sich in der Stadt ihrerseits gefangene Kaiserliche und Lodianer, schleppten sie auf die Mauern und töteten sie kaltblütig vor den Augen Friedrichs. Daraufhin ließ dieser zwei gefangene Cremeser vor die Mauern bringen, beschuldigte sie als Banditen und Meineidige, machte ihnen an Ort und Stelle den Prozess und verurteilte sie zum Tode. Die Cremeser ließen ihn wissen, wenn er die beiden hängen lasse, würden sie ihrerseits alle Gefangenen hängen, die sie noch als Geiseln in der Stadt hatten, Friedrich erwiderte, das wolle er sehen, und ließ die beiden hängen. Woraufhin die Cremeser, ohne ein weiteres Wort zu sagen, alle ihre Geiseln coram populo aufknüpften. Friedrich, der nur noch tobte, ließ seinerseits alle Cremeser herbeiholen, die er noch hatte, ließ vor der Stadt einen Wald von Galgen errichten und machte Anstalten, alle hängen zu lassen. Bischöfe und Äbte stürzten herbei und flehten ihn an, Gnade walten zu lassen – er, der doch der Quell des Erbarmens sein müsse, dürfe nicht die Ruchlosigkeit seiner Feinde nachahmen. Der Kaiser war berührt von dieser Intervention, doch er konnte die Drohung nicht einfach zurücknehmen, und so beschloss er, wenigstens neun jener Unglücklichen hinzurichten.
Als Baudolino dies alles hörte, brach er in Tränen aus. Nicht nur, weil er von Natur aus ein Mann des Friedens war, schon die bloße Vorstellung, dass sein heißgeliebter Adoptivvater sich mit solchen Verbrechen besudelt hatte, bewog ihn, in Paris zu bleiben und weiterzustudieren – und auf dunkle Weise, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, überzeugte sie ihn auch, dass es keine Sünde war, die Kaiserin zu lieben. So fing er wieder an, immer leidenschaftlichere Briefe zu schreiben, sowie Antworten, die einem Eremiten das Blut in Wallung gebracht hätten. Nur dass er sie diesmal nicht mehr seinen Freunden zeigte.
Da er sich trotzdem schuldig fühlte, beschloss er, etwas zum Ruhme seines Herrn zu tun. Otto hatte ihm als Vermächtnis und letzten Auftrag hinterlassen, den Priester Johannes aus dem Dunkel des bloßen Gerüchts zu holen.Also widmete sich Baudolino fortan der Suche nach jenem unbekannten, jedoch – laut Otto – gewiss hochberühmten Priester.
Da Baudolino und Abdul, nachdem sie die Jahre des Triviums und des Quadriviums hinter sich hatten, im Disputieren wohlgeübt waren, stellten sie sich als erstes die Frage: Gibt es wirklich einen Priester Johannes? Allerdings stellten sie sich diese Frage unter Bedingungen, die Baudolino seinem byzantinischen Zuhörer zu erklären eine gewisse Hemmung verspürte.
Seit der Poet fort war, wohnte Abdul bei Baudolino. Eines Abends, als Baudolino nach Hause kam, saß Abdul allein im Zimmer und sang eines seiner schönsten Lieder, in dem er davon träumte, seiner fernen Prinzessin zu begegnen, doch als er sie schon fast zum Greifen nahe vor sich hatte, schien sie plötzlich rückwärts zu gehen. Baudolino begriff nicht recht, ob es die Worte waren oder die Musik, aber das Bild Beatrixens, das ihm sofort erschienen war, als er dem Gesang lauschte, entschwand und löste sich vor seinen Augen in nichts auf. Abdul sang weiter, und nie war ihm sein Gesang so
Weitere Kostenlose Bücher