Baudolino - Eco, U: Baudolino
Antwort auf diese Frage auszuweichen, machte er sich bewusst, dass er, wenn dieAntwort diejenige wäre, die er befürchtete, die fünfte und schrecklichste seiner Sünden begangen hätte: Er hätte die Tugend seines Idols unabwaschbar befleckt, nur um seinen Groll auf Friedrich zu befriedigen, er hätte das, was der Zweck seines Daseins geworden war, in ein schnödes Mittel verwandelt.
»Kyrios Niketas, dieser Verdacht hat mich viele Jahre lang begleitet, auch wenn ich die herzzerreißende Schönheit jenes Augenblicks nicht vergessen konnte. Ich war immer verliebter, aber diesmal hatte ich keinerlei Hoffnung mehr, nicht einmal im Traum. Denn wenn ich irgendeine Vergebung haben wollte, musste ihr Bild auch aus meinen Träumen verschwinden. Im Grunde, sagte ich mir während vieler langer schlafloser Nächte, im Grunde habe ich alles gehabt und kann nichts anderes mehr wollen.«
Die Nacht sank auf Konstantinopel herab, und der Himmel war nicht mehr gerötet. Der Brand erlosch allmählich, und nur auf einigen Hügeln der Stadt sah man noch Reste glimmen. Niketas hatte unterdessen zwei Kelche mit Honigwein bestellt. Baudolino nahm einen Schluck, während er ins Leere starrte. »Das ist Wein aus Thasos. Zuerst gibt man eine Paste aus honiggetränktem Emmer in den Krug, dann mischt man einen starken würzigen Wein mit einem delikateren. Der Geschmack ist süß, nicht wahr?« fragte Niketas. »Ja, sehr«, antwortete Baudolino, der an andere Dinge zu denken schien. Dann stellte er den Kelch ab.
»An jenem selben Abend«, schloss er, »habe ich für immer darauf verzichtet, ein Urteil über Friedrich zu fällen, denn ich fühlte mich ihm gegenüber schuldig. Was ist schlimmer: einem Feind die Nase abzuschneiden oder die Frau deines Wohltäters auf den Mund zu küssen?«
Am nächsten Tag ging er zu seinem Adoptivvater, um ihn um Vergebung für seine harten Worte zu bitten, und errötete, als er merkte, dass Friedrich es war, der Gewissensbisse empfand. Der Kaiser umarmte ihn, entschuldigte sich für seinen Wutausbruch und sagte, dass er den hundert Speichelleckern, die er um sich habe, einen Sohn wie ihnvorziehe, der sich traue, es ihm zu sagen, wenn er sich irre. »Nicht einmal mein Beichtvater hat den Mut dazu«, gestand er ihm lächelnd. »Du bist der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe.«
Baudolino begann seine Schuld dadurch abzuzahlen, dass er vor Scham verging.
10. Kapitel
Baudolino findet die Könige aus
dem Morgenland und lässt
Karl den Großen heiligsprechen
Baudolino war vor den Mauern Mailands eingetroffen, als die Mailänder der Belagerung nicht mehr standhalten konnten, auch ihrer inneren Zwietracht wegen. Am Ende hatten sie Parlamentäre geschickt, um die Kapitulation auszuhandeln, und die Bedingungen waren dieselben wie jene, die auf dem Reichstag in Roncaglia festgelegt worden waren; mit anderen Worten, vier Jahre später, trotz aller Toten und Verwüstungen, war es noch genauso wie vorher. Oder besser gesagt, es war eine noch schmählichere Kapitulation als die vorangegangene. Friedrich hätte den Besiegten auch diesmal gerne großmütig verziehen, aber Rainald blies gnadenlos ins Feuer. Man müsse den Mailändern eine Lektion erteilen, die allen in Erinnerung bleiben würde, und man müsse diejenigen Städte zufriedenstellen, die sich auf die Seite des Kaisers gestellt hatten, nicht aus Liebe zu ihm, sondern aus Hass auf Mailand.
»Baudolino«, sagte der Kaiser zu seinem Adoptivsohn, »bitte schilt mich diesmal nicht. Manchmal muss auch ein Kaiser tun, was seine Berater wollen.« Und leise fügte er hinzu: »Dieser Rainald macht mir mehr Angst als die Mailänder.«
So hatte er angeordnet, dass alle Bewohner die Stadt verlassen mussten, Männer, Frauen und Kinder, und dass Mailand dem Erdboden gleichgemacht werde.
Die Lager rings um die Stadt wimmelten nun von Mailändern, die ziellos umherliefen, einige hatten sich in die Nachbarstädte geflüchtet, andere blieben draußen vor den Mauern in der Hoffnung, dass der Kaiser ihnen vergeben und sie wieder hineinlassen werde. Es regnete, die Flüchtlingezitterten nachts vor Kälte, die Kinder wurden krank, die Frauen weinten, die Männer hockten, nun entwaffnet, niedergeschlagen an den Straßenrändern und reckten die Fäuste zum Himmel, denn es war jetzt empfehlenswerter, den Allmächtigen zu verfluchen, als den Kaiser, dessen Männer umhergingen und sich nach dem Grund der allzu lauten Klagen erkundigten.
Zuerst hatte Friedrich
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