Baudolino - Eco, U: Baudolino
Baudolino, als er das Lager verließ, wobei er selber nicht wusste, was er denn Schreckliches anstellen könnte, er fühlte nur, dass er seinen Adoptivvater hasste und ihm etwas Böses tun wollte.
Immer noch wütend, erreichte er die Unterkunft derKaiserin. Er küsste artig den Saum ihres Kleides, dann ihre Hand, sie wunderte sich über seine Narbe und fragte besorgt, was das sei. Er antwortete wegwerfend, das sei ein Zusammenstoß mit Straßenräubern gewesen, so was passiere nun mal, wenn man in der Welt umherziehe. Beatrix sah ihn bewundernd an, und man muss sagen, dass dieser Zwanzigjährige mit seinem Löwenkopf, den die Narbe noch männlicher machte, inzwischen ein stattliches Mannsbild geworden war. Die Kaiserin lud ihn ein, sich zu setzen und seine letzten Erlebnisse zu erzählen. Und während sie, unter einem anmutigen Baldachin sitzend, lächelnd stickte, kauerte er sich ihr zu Füßen und begann zu erzählen, ohne recht zu wissen was, nur um seine Erregung zu besänftigen. Doch während er sprach, betrachtete er von unten nach oben ihr wunderschönes Gesicht und machte erneut alle Liebesqualen der letzten Jahre durch – aber nun alle auf einmal, verhundertfacht –, bis Beatrix mit einem ihrer holdesten Lächeln zu ihm sagte: »Aber du hast nicht so viel geschrieben, wie ich es dir befohlen hatte und wie ich es mir gewünscht hätte.«
Vielleicht hatte sie es im schwesterlichen Ton eines sanften Tadels gesagt, vielleicht war es auch nur, um das Gespräch zu beleben, doch für Baudolino konnte Beatrix nichts sagen, ohne dass ihre Worte gleichzeitig Balsam und Gift waren. Mit zitternden Händen griff er in seine Brust, zog die Briefe hervor, seine an sie und ihre an ihn, und flüsterte, während er sie ihr reichte: »Das stimmt nicht, Herrin, ich habe sehr viele geschrieben, und du hast mir geantwortet.«
Beatrix verstand nicht, nahm die Briefe und begann sie zu lesen, halblaut, um die beiden Handschriften besser zu entziffern. Baudolino, der zwei Schritte vor ihr saß, rang schwitzend die Hände, sagte sich, dass er ein Narr sei, dass sie ihn gleich hinausjagen und ihre Wachen rufen würde, und wünschte, er hätte einen Dolch, um ihn sich ins Herz zu stoßen. Beatrix fuhr fort zu lesen, und ihre Wangen röteten sich immer mehr, ihre Stimme zitterte, während sie jene feurigen Worte buchstabierte, als zelebrierte sie eine blasphemische Messe. Sie erhob sich, schienmindestens zweimal zu wanken, wies mindestens zweimal Baudolinos Hilfe zurück, als er vorsprang, um sie zu halten, und sagte dann mit schwacher Stimme: »O Junge, Junge, was hast du getan!«
Baudolino näherte sich ihr erneut, um ihr zitternd die Briefe aus der Hand zu nehmen, sie streckte am ganzen Leibe zitternd die Hand vor, um ihm den Nacken zu streicheln, er drehte den Kopf zur Seite, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, sie fuhr ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Narbe. Um auch dieser Berührung auszuweichen, drehte er von neuem den Kopf, aber sie war ihm inzwischen zu nahe gekommen, und so fanden sie sich unversehens Nase an Nase. Baudolino verschränkte die Hände auf dem Rücken, um sich eine Umarmung zu verbieten, aber inzwischen berührten sich ihre Lippen, und nachdem sie sich berührt hatten, öffneten sie sich ein bisschen, so dass für einen Moment, nur einen der wenigen Momente, die dieser Kuss dauerte, durch ihre halbgeöffneten Lippen auch ihre Zungen einander berührten.
Als diese blitzartige Ewigkeit vorüber war, wich Beatrix zurück, nun weiß wie eine Kranke, sah Baudolino streng in die Augen und sagte: »Bei allen Heiligen des Paradieses, tu nie wieder, was du da getan hast!«
Sie hatte das ohne Zorn gesagt, fast gefühllos, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht. Dann wurden ihre Augen feucht, und sie fügte sanft hinzu: »Ich bitte dich.«
Baudolino fiel auf die Knie und berührte fast mit der Stirn den Boden, dann stürzte er Hals über Kopf hinaus, ohne zu wissen, wohin er lief. Später machte er sich klar, dass er in einem einzigen Augenblick vier Verbrechen begangen hatte: Er hatte die Majestät der Kaiserin beleidigt, er hatte sich mit Ehebruch befleckt, er hatte das Vertrauen seines Vaters verraten, und er hatte der infamen Versuchung zur Rache nachgegeben. Rache, denn hätte ich – fragte er sich –, wenn Friedrich jenes Gemetzel nicht begangen, er mich also nicht beschimpft und ich keinen Hass auf ihn verspürt hätte, gleichfalls getan, was ich getan habe? Während er noch versuchte, der
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