Baudolino
sagst, rechnest du auch Judas dazu!«
»Also gut, elf.«
»Somit«, sagte Niketas, »war das deine erste Reise nach Byzanz. Nach allem, was du da gesehen hast, würde es mich nicht überraschen, wenn du jetzt das, was zur Zeit hier geschieht, als eine reinigende Ausräucherung betrachtest.«
»Ach, weißt du, Kyrios Niketas«, sagte Baudolino, »mir haben die reinigenden Ausräucherungen, wie du sie nennst, nie recht gefallen. Alexandria mag ja ein elendes Kaff sein, aber bei uns, wenn da jemand das Sagen hat, der uns nicht gefällt, dann schicken wir ihn nach Hause und wählen uns einen anderen Konsul. Und auch Friedrich, er mochte ja manchmal jähzornig sein, aber wenn seine Vettern ihn ärgerten, dann ließ er sie nicht entmannen, sondern gab ihnen noch ein Herzogtum drauf. Aber das ist eine andere Geschichte. In meiner war ich nun schon an
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den äußersten Grenzen der Christenheit, ich hätte nur weiter nach Osten gehen müssen oder nach Süden und hätte die Länder Indiens gefunden. Aber inzwischen hatten wir unser Geld aufgebraucht, und um weiter nach Osten gehen zu können, mußte ich erst einmal in den Westen zurück. Ich war
mittlerweile dreiundvierzig Jahre alt, ich war dem Priester Johannes seit spätestens meinem sechzehnten Lebensjahr auf der Spur, und nun sah ich mich ein weiteres Mal gezwungen, meine Reise aufzuschieben.«
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22. KAPITEL
BAUDOLINO VERLIERT DEN
VATER UND FINDET DEN
GRADAL
Die Genueser hatten Boiamondo und Theophilos ausgeschickt, einen Rundgang durch die Stadt zu machen, um die Lage zu erkunden. Die Lage sei ziemlich günstig, berichteten sie bei der Rückkehr, denn ein großer Teil de Pilger sitze in den Tavernen, und der Rest scheine sich in der Hagia Sophia versammelt zu haben, um mit begehrlichen Blicken den dort angehäuften Reliquienschatz zu betrachten.
»Da gehen einem die Augen über«, sagte Boiamondo Aber die Ablieferung der Beute habe sich in einen übler Schwindel verwandelt, fügte er hinzu. Einige täten nur so als gäben sie ihre Beute ab, legten ein bißchen Klimbim au: den Haufen, aber schöben sich dann heimlich den Knochen eines Heiligen unters Hemd. Da jedoch niemand mit einer Reliquie im Gewand
erwischt werden wolle, habe sich gleich draußen vor der Kirche so etwas wie ein kleiner Markt gebildet, mit noch betuchten Bürgern und armenischen Händlern.
»So kommt es«, schloß Boiamondo höhnisch, »daß die
Griechen, die sich noch ein paar byzantinische Goldmünzen retten konnten, weil sie sie gut versteckt hatten, sie nun für einen Fingerknochen des Heiligen Baciccia hervorholen, der vielleicht immer schon in der Kirche an der nächsten Ecke gewesen war!
Aber vielleicht verkaufen sie ihn dann wieder an die Kirche,
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diese Griechen sind ja gerissene Kerle. Das Ganze ist ein einziger großer Beschiß - und dann sagen sie, wir Genueser wären es, die immer nur ans Geschäft denken!«
»Aber was bringen sie denn in die Kirche?« fragte Niketas.
Theophilos gab einen präziseren Bericht. Er hatte die Truhe gesehen, die den Purpurmantel Christi enthielt, ein Stück vom Rohr der Geißelung, den Schwamm, der dem sterbenden Herrn am Kreuz hingehalten worden war, die Dornenkrone sowie ein Behältnis, das ein Stück des beim Letzten Abendmahl
gewandelten Brotes enthielt, und zwar dasjenige, welches der Herr dem Judas angeboten hatte. Dann war ein Schrein mit den Barthaaren des Gekreuzigten eingetroffen, die ihm die Juden nach der Kreuzabnahme ausgerissen hatten, und eingehüllt war dieser Schrein in die Kleidungsstücke des Herrn, um die die Soldaten unter dem Kreuz gewürfelt hatten. Und dann die völlig unversehrte Geißelungssäule.
»Ich habe auch gesehen, wie sie ein Stück vom Kleid der Madonna gebracht haben«, sagte Boiamondo.
»Oje!« rief Niketas. »Wenn sie nur ein Stück gebracht haben, kann das nur heißen, daß sie es unter sich aufgeteilt haben. Es existierte unversehrt, im Blachernenpalast. Vor langer Zeit waren ein gewisser Galbius und ein gewisser Candidus nach Palästina gepilgert und hatten in Kapharnaum erfahren, daß dort im Hause eines Juden das Pallion der Jungfrau aufbewahrt wurde. Sie freundeten sich mit ihm an, verbrachten die Nacht bei ihm, nahmen heimlich die Maße der Truhe, in der das Kleid lag, ließen sich in Jerusalem eine ganz ähnliche Truhe machen, kehrten zurück nach Kapharnaum, vertauschten nachts die Truhen und brachten das Kleid nach Konstantinopel, wo dann extra dafür die Kirche der Apostel
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