Baudolino
durchdrungen, so daß er nicht mehr wußte, ob er träumte oder wachte.
Auf einmal sah er - oder besser, fühlte er ganz in der Nähe, als ob er sie sähe - Colandrina. »Baudolino, Baudolino«, rief sie mit mädchenhafter Stimme, »bleib nicht da, wo du bist, auch wenn
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dir da alles so schön vorkommt. Du mußt zum Reich dieses Priesters, von dem du mir erzählt hast, und mußt ihm diesen Kelch bringen, wer macht sonst unser Baudolinchen-Colandrinchen zum Herzog? Mach mich glücklich, hier oben geht's mir nicht schlecht, aber du fehlst mir so!«
»Colandrina, Colandrina«, rief Baudolino oder glaubte er zu rufen, »sei still, du bist eine Larve, eine Täuschung, eine Frucht dieser Frucht! Die Toten kehren nicht zurück!«
»Gewöhnlich nicht«, antwortete Colandrina, »aber ich hab so sehr gebettelt. Ich habe gesagt, ihr habt mir nur eine Jahreszeit mit meinem Mann gegeben, nur ein winziges Stückchen. Tut mir diesen kleinen Gefallen, wenn ihr ein Herz habt. Es geht mir gut hier oben, ich sehe die Madonna und alle Heiligen, aber mir fehlen die Liebkosungen meines Baudolino, der mich so schön gekitzelt hat. Da haben sie mir ein bißchen Zeit gegeben, gerade genug für ein Küßchen. Baudolino, gib dich auf der Reise nicht mit den Frauen ab, die du unterwegs triffst, sie haben
womöglich schlimme Krankheiten. Nimm die Beine in die Hand und geh der Sonne entgegen.«
Sie verschwand, während Baudolino eine weiche Berührung auf der Wange spürte. Er schüttelte seinen Wachtraum ab, legte sich wieder hin und schlief friedlich ein.
Am nächsten Morgen sagte er zu seinen Gefährten, sie müßten weiterziehen.
Noch viele weitere Tage vergingen, dann entdeckten sie einen Schimmer, einen milchigen Streifen am Horizont. Langsam verwandelte sich die Finsternis wieder in das Grau eines dichten gleichmäßigen Nebels. Sie wurden gewahr, daß die Abkasianer, die sie begleitet hatten, stehengeblieben waren und sich flötend und pfeifend von ihnen verabschiedeten.
Offenbar waren sie am Rand einer Lichtung stehengeblieben, an der Grenze jener Helligkeit, die sie sicherlich fürchteten, und
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es hörte sich an, als winkten sie ihnen nach, und am Klang ihrer Stimmen war zu erkennen, daß sie lächelten.
Erneut ging es durch den Nebel, dann erblickten die zwölf zum ersten Mal wieder die Sonne. Anfangs waren sie wie
geblendet, und Abdul wurde gleich wieder von Fieberschauern gepackt.
Sie hatten gedacht, nach der Prüfung mit Abkasia würden sie endlich in die ersehnten Gefilde gelangen, aber sie mußten rasch einsehen, daß dem nicht so war.
Kaum hatten sie den Nebel hinter sich, kamen Vögel mit
Menschengesichtern geflogen, die über ihren Köpfen kreisten und riefen: »Welchen Boden betretet ihr da? Zurück, zurück!
Das Land der Seligen darf nicht verletzt werden. Kehrt zurück in das Land, das euch gegeben worden ist!« Der Poet sagte, es handle sich um eine Hexerei, vielleicht um eine der Methoden, mit denen das Land des Priesters verteidigt werde, und
überredete die anderen weiterzuziehen.
Nachdem sie ein paar Tage durch eine Steinwüste ohne jeden Halm geritten waren, sahen sie drei Bestien auf sich zukommen.
Die eine war zweifellos eine Katze, der Rücken gebuckelt, das Fell gesträubt und Augen wie glühende Kohlen.
Die andere hatte den Kopf eines brüllenden Löwen, den Leib einer Ziege und das Hinterteil eines Drachens, doch auf dem Ziegenrücken erhob sich ein zweiter Kopf, der Hörner hatte und blökte. Der Schwanz war eine Schlange, die sich mit drohendem Zischen nach vorne reckte.
Die dritte Bestie hatte einen Löwenleib, einen Skorpionstachel und einen fast menschlichen Kopf mit himmelblauen Augen, einer schöngezeichneten Nase und einem weit aufgerissenen Mund, in dem man oben und unten je eine dreifache Reihe von messerscharfen Zähnen gewahrte.
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Am meisten Sorge bereitete unseren Freunden zunächst die Katze, bekanntlich ein Bote Satans und Haustier nur bei Hexen und Zauberern, auch weil man sich gegen jedes Untier
verteidigen kann, nur nicht gegen sie, denn noch ehe man das Schwert gezogen hat, springt sie einem ins Gesicht und kratzt einem die Augen aus. Solomon murmelte überdies, es sei nichts Gutes zu erwarten von einem Tier, das nirgendwo im Buch der Bücher erwähnt werde. Das zweite Tier war Boron zufolge sicherlich eine Chimäre, das einzige Wesen, welches, wenn es die Leere gäbe, summend in ihr fliegen und die Gedanken der Menschen aufsaugen könne. Beim dritten
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