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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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ihr die Worte des Herrn, immerdar gesegnet sei der Heilige, auf Bilder reduzieren wollt, friert ihr jene Stimme ein, als wäre sie frisches Wasser, das zu Eis wird und den Durst nicht mehr stillt, sondern die Glieder in die Starre des Todes fallen läßt. Der Kanonikus Richard möchte, um den spirituellen Sinn jedes Teils des Tempels zu begreifen, ihn gerne nachbauen, so wie es ein Maurermeister tun würde, aber es wird ihm nicht gelingen.
    Visionen gleichen den Träumen, in denen die Dinge sich
    ineinander verwandeln, nicht den Bildern in euren Kirchen, auf denen die Dinge immer gleich bleiben.«
    Alsdann fragte Rabbi Solomon, warum seine Besucher wissen wollten, wie der Tempel beschaffen war, und sie erzählten ihm von ihrer Suche nach dem Reich des Priesters Johannes. Der Rabbiner zeigte sich sehr interessiert. »Vielleicht wißt ihr nicht«, sagte er, »daß auch unsere Texte von einem
    geheimnisvollen Reich im fernen Osten sprechen, wo noch die zehn verstreuten Stämme Israels leben sollen.«
    »Ich habe von diesen Stämmen gehört«, sagte Baudolino,
    »aber ich weiß nur sehr wenig über sie.«
    »Steht alles geschrieben. Nach dem Tod Salomons gerieten die zwölf Stämme, in welche Israel damals geteilt war, miteinander in Streit. Nur zwei von ihnen, der Stamm Juda und der Stamm Benjamin, blieben dem Geschlecht Davids treu, die zehn
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    anderen zogen nach Norden, wo sie dann von den Assyrern besiegt und zu Sklaven gemacht wurden. Man hat nie wieder von ihnen gehört. Esra sagt, sie seien fortgezogen in ein niemals zuvor von Menschen bewohntes Land, in eine Gegend namens Arsareth, und andere Propheten haben geweissagt, eines Tages würden sie wiedergefunden werden und triumphierend
    zurückkehren nach Jerusalem. Nun ist vor über hundert Jahren einer unserer Brüder, Eldad vom Stamme Dan, in Qayrawan eingetroffen, in Afrika, wo eine Gemeinde des Auserwählten Volkes lebt, und hat gesagt, er komme aus dem Reich der zehn verstreuten Stämme, einem gesegneten Land, wo man ein
    friedliches, durch keinerlei Untat gestörtes Leben führe und wo in den Flüssen wirklich Milch und Honig flössen. Dieses Land sei von allen anderen abgetrennt durch den Fluß Sambatyon, der so breit sei, daß nur der Pfeil des stärksten Bogens
    hinüberreiche, der aber kein Wasser führe, es flössen dort vielmehr in reißendem Strom nur Sand und Steine, die einen solchen Lärm machten, daß man ihn auch noch eine halbe
    Tagereise weit höre, und diese tote Materie fließe so schnell, daß jeder, der den Fluß überqueren wolle, von ihr fortgerissen werde. Nur am Sabbat halte dieser steinerne Fluß inne, und nur am Sabbat könne man ihn daher überqueren, doch keiner der Söhne Israels dürfe die Sabbatruhe verletzen.«
    »Aber die Christen könnten hinüber?« fragte Abdul.
    »Nein, denn am Sabbat macht eine Feuerwand die Ufer des Flusses unzugänglich.«
    »Und wie hat Eldad es dann geschafft, nach Afrika zu
    gelangen?« fragte der Poet.
    »Das weiß ich nicht, aber wer bin ich, daß ich mir erlauben könnte, die Dekrete des Herrn, gesegnet sei der immerdar Heilige, zu diskutieren? Unfromme Menschen könnten Eldad hinübergetragen haben, oder auch ein Engel. Das Problem für unsere Rabbiner, die sofort über diese Erzählung zu diskutieren
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    begannen, von Babylon bis Spanien, war eher ein anderes: Wenn die zehn verstreuten Stämme nach Gottes Gesetz lebten, müßten ihre Gesetze dieselben sein wie in Israel, aber nach dem, was Eldad erzählte, waren es andere.«
    »Aber wenn das, wovon Eldad gesprochen hatte, das Reich des Priesters Johannes war«, sagte Baudolino, »dann wären seine Gesetze tatsächlich andere als die euren, aber ähnlich den unseren, nur besser!«
    »Das ist es, was uns von euch Nichtjuden trennt«, sagte Rabbi Solomon. »Ihr habt die Freiheit, euch an euer Gesetz zu halten oder nicht, und habt es verdorben, so daß ihr nun einen Ort sucht, wo es noch befolgt wird. Wir haben unser Gesetz
    unangetastet gelassen, aber wir haben nicht die Freiheit, es zu befolgen oder nicht. Dennoch wisse, daß es auch mein Wunsch wäre, jenes Reich zu finden, denn es könnte sein, daß dort unsere zehn verstreuten Stämme und die Gojim in Frieden und Harmonie miteinander leben, jeder frei, sein eigenes Gesetz zu befolgen, und die bloße Existenz dieses wunderbaren Reiches wäre ein Beispiel für alle Kinder des Allerhöchsten, der Gesegnete immerdar heilig sei. Und obendrein sage ich dir, daß ich jenes Reich noch aus einem

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