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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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kaiserlichen Macht werden könnte, mindestens so wie die wiedergefundenen Magier. Daher begann ihn die Sache zu
    interessieren, und er beteiligte sich daran, als konstruierte er eine Kriegsmaschine. Je länger er davon sprach, desto mehr schien es, als verwandelte sich für ihn das Land des Priesters Johannes, gleich dem irdischen Jerusalem, aus einem Wallfahrtsort in ein zu eroberndes Land.
    So erinnerte er die Freunde daran, daß der Priester nach dem Fund der Magier noch viel bedeutender geworden war als
    vorher, er mußte sich nun wirklich als rex et sacerdos
    präsentieren. Als König der Könige mußte er eine Residenz
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    haben, neben welcher die der christlichen Herrscher,
    einschließlich des Basileus der Schismatiker in Konstantinopel, wie Hundehütten erschienen, und als Priester mußte er einen Tempel haben, neben dem die Kirchen des Papstes finstere Löcher wären. Er brauchte einen angemessenen Palast.
    »Das Modell gibt es«, sagte Boron, »es ist das Himmlische Jerusalem, wie es der Apostel Johannes in der Apokalypse gesehen hat. Die Anlage muß von hohen Mauern umgeben sein, mit zwölf Toren entsprechend den zwölf Stämmen Israels, drei nach Süden, drei nach Westen, drei nach Osten und drei nach Norden...«
    »Hui, hui«, alberte der Poet, »und der Priester geht durch das eine rein und durchs andere raus, und wenn's stürmt, schlagen und klappern sie alle gleichzeitig, stell' dir bloß mal vor, wie's da ziehen muß, also ich würde in so einem Palast nicht mal tot sein wollen...«
    »Laß mich weiterreden. Die Grundsteine der Mauern sind aus Jaspis, Saphir, Chalzedon, Smaragd., Sardonyx, Sarder,
    Chrysolith, Beryll, Topas, Chrysopras, Hyazinth und Amethyst, und die zwölf Tore sind zwölf Perlen, und der Vorplatz ist reines Gold, durchscheinend wie Glas.«
    »Nicht schlecht«, sagte Abdul, »aber ich glaube, das Modell muß eher das des Tempels von Jerusalem sein, wie ihn der Prophet Ezechiel beschrieben hat. Kommt morgen mit in die Abtei. Einer der Kanoniker, der hochgelehrte Richard von Sankt Viktor, ist dort auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Plan des Tempels zu rekonstruieren, denn der Text des Propheten ist stellenweise unklar..«
    »Kyrios Niketas«, sagte Baudolino, »ich weiß nicht, ob du dich je mit den Maßen des Tempels beschäftigt hast.«
    »Noch nicht.«
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    »Tu's nie, man kann dabei den Verstand verlieren. Im ersten Buch der Könige heißt es, der Tempel sei sechzig Ellen lang, zwanzig breit und dreißig hoch, und die Vorhalle sei zwanzig Ellen breit und zehn tief. Im zweiten Buch der Chronik heißt es jedoch, die Vorhalle sei hundertzwanzig Ellen hoch. Mit anderen Worten, bei zwanzig Ellen Breite, zehn Ellen Tiefe und hundertzwanzig! Ellen Höhe wäre die Vorhalle nicht nur
    viermal so hoch wie der ganze Tempel, sondern auch so schmal, daß sie beim geringsten Windstoß zusammenbräche. Richtig verzwickt wird es aber, wenn du die Vision Ezechiels liest. Da stimmt kein einziges Maß, da paßt nichts zusammen, weshalb viele fromme Leute betont haben, Ezechiel habe eben eine Vision gehabt, was ein bißchen so ist,, als ob man sagte, er habe etwas zuviel getrunken und alles doppelt gesehen. Nicht weiter schlimm, der arme Ezechiel durfte sich auch mal ein bißchen irren, hätte dann nur nicht der erwähnte Richard von Sankt Viktor folgende Überlegung angestellt: Wenn jedes Ding, jede Zahl, jeder Strohhalm in der Bibel eine spirituelle Bedeutung hat, dann muß man sehr genau hinsehen, was sie wortwörtlich sagt, denn für die spirituelle Bedeutung ist es eine Sache, zu sagen, daß etwas drei Ellen lang ist, und eine andere, daß es neun Ellen lang ist, da diese beiden Zahlen verschiedene mystische Werte haben. Du machst dir keine Vorstellung, wie es in Richards Vorlesung über den Tempel zuging. Er hatte das Buch Ezechiel vor Augen und arbeitete mit einer Schnur, um alle Maße zu nehmen. Er zeichnete den Umriß dessen, was Ezechiel beschrieben hatte, dann nahm er Stäbe und Brettchen aus dünnem Holz und schnitt sie zurecht, assistiert von seinen Schülern, und versuchte sie zusammenzufügen mit Leim und Nägeln... Er wollte den Tempel nachbauen und verkleinerte die Maße proportional, das heißt, wo Ezechiel eine Elle sagte, ließ er einen Fingerbreit schneiden... Alle naselang brach das Ganze zusammen, Richard schalt seine Helfer, sie hätten nicht richtig festgehalten oder zuwenig Leim genommen, sie rechtfertigten
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    sich, er habe ihnen falsche Maße gegeben.

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