Baudolino
er sagte, errieten aber die Absicht. Sie ließen ihre Arbeit liegen, griffen sich einen Stein oder einen Knüppel und stellten sich im Halbkreis um das Maultier. Zum Glück näherten sich in diesem Moment andere Leute, darunter einer, der wie ein Ritter aussah, und der sagte zu den Genuesern in einer Mischung aus Latein, Provenzalisch und wer weiß was, der Pilgersmann spreche wie einer aus dieser Gegend und daher sollten sie ihn nicht behandeln, als ob er kein Recht hätte, hier durchzureiten. Die Genueser rechtfertigten sich: er habe Fragen gestellt, als ob er ein Spitzel wäre, woraufhin der Ritter erwiderte, um so besser, wenn der Kaiser nun Spitzel
ausschicke, dann erfahre er endlich, daß hier eine Stadt entstehe, extra um ihm Ärger zu machen. Und zu Baudolino sagte er: »Ich habe dich noch nie gesehen, aber du siehst aus wie einer, der heimkehrt. Woher kommst du?«
»Herr«, antwortete Baudolino höflich, »ich bin in der
Frascheta geboren, aber ich war viele Jahre fort und weiß nichts
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von alledem, was hier geschieht. Ich heiße Baudolino, Sohn des Gagliaudo Aulari...«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hob einer aus der Gruppe der Neugekommenen, ein Alter mit weißem Haar und weißem Bart, einen Stock und fing an zu zetern: »Lügner, verdammter, der Blitz soll dich treffen, wie kannst du's wagen, den Namen meines armen Baudolino zu benutzen, meines
Sohnes, jawohl, denn ich selbst bin der Gagliaudo Aulari, und vor so vielen Jahren ist er fortgezogen mit einem alemannischen Herrn, der ein großer Herr schien, aber wohl doch bloß ein Gaukler war, der Affen auf den Jahrmärkten tanzen läßt, denn ich hab nie wieder was von meinem Jungen gehört, nach so vielen Jahren kann er nur tot sein, weshalb meine liebe Frau und ich uns seit dreißig Jahren verzehren, denn das ist der größte Schmerz unseres Lebens gewesen, das eh schon schwer genug war, aber einen Sohn zu verlieren, was das bedeutet, weiß nur, wer's selber erfahren hat!«
Da konnte Baudolino nicht länger an sich halten und rief:
»Vater, mein Vater, du bist es wirklich!« und die Stimme versagte ihm fast und Tränen sprangen ihm in die Augen, aber es waren Tränen, die eine große Freude verrieten. Dann fügte er hinzu: »Aber es sind keine dreißig Jahre gewesen, die ihr gelitten habt, ich bin erst vor dreizehn Jahren fortgegangen, und du solltest froh sein, daß aus mir was geworden ist.« Der Alte trat zu dem Maultier, sah Baudolino ins Gesicht und sagte:
»Auch du bist es wirklich! Wären auch dreißig Jahre vergangen, diesen dußligen Blick hast du nicht verloren, aber weißt du, was ich dir sage? Du magst vielleicht jemand geworden sein, aber deinem Vater unrecht geben, das darfst du nicht. Wenn ich dreißig Jahre gesagt habe, dann weil es mir vorgekommen ist wie dreißig Jahre, und in dreißig Jahren hättest du auch mal was von dir hören lassen können, Unglücksmensch, nichtsnutziger, jawohl, das bist du, du bist das Unglück unserer Familie, komm
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runter da von deinem Maultier, das du wahrscheinlich gestohlen hast, daß ich dir diesen Knüppel über die Rübe haue!« Und schon hatte er Baudolino am Fuß gepackt, um ihn
herunterzuzerren, aber da trat der Herr dazwischen, der wie ein Ritter aussah, und sagte: »Komm, Gagliaudo, begrüß deinen wiedergefundenen Sohn nach dreißig Jahren...«
»Dreizehn«, sagte Baudolino.
»Du sei still, wir beide reden gleich miteinander. Nach dreißig Jahren hast du ihn wiedergefunden, und in solchen Fällen umarmt man sich und dankt dem Himmel, Herrgott!« Baudolino war inzwischen abgestiegen und machte Anstalten, sich seinem Vater in die Arme zu werfen, der zu weinen begonnen hatte, aber da trat der Herr, der wie ein Ritter aussah, von neuem dazwischen und packte Baudolino am Kragen: »Wenn es hier jemanden gibt, der eine Rechnung mit dir zu begleichen hat, dann bin ich es.«
»Und wer bist du?« fragte Baudolino. »Ich bin Oberto del Foro, aber du weißt es nicht mehr und erinnerst dich womöglich an gar nichts. Ich war vielleicht zehn Jahre alt, und mein Vater hatte sich herabgelassen, einen Besuch bei deinem Vater zu machen, um ein paar Kälber zu besichtigen, die er kaufen wollte. Ich war so angezogen, wie es sich für den Sohn eines Ritters gehörte, und mein Vater wollte nicht, daß ich mit in den Stall ging, weil er fürchtete, daß ich mich schmutzig machen würde. So bin ich draußen ums Haus gegangen, und hinter dem Haus warst du, und du warst total
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