Bauernjagd
dass
er überhaupt gerettet werden konnte. Dazu kamen ein Schulterbruch und
zahlreiche Prellungen, doch das waren im Vergleich dazu nur Kleinigkeiten.
Clemens schüttelte langsam den Kopf. »Es tut mir vor allem wegen
Marita leid. Sie muss nun die Maisernte alleine schaffen, obwohl sie doch so
schon genug um die Ohren hat.«
»Ach was, mach dir deswegen keine Sorgen. Das geht schon. Tante Ada,
Mutter und ich arbeiten vorübergehend halt ein bisschen mehr. Wir teilen es uns
auf. Außerdem ist die Maisernte ja so gut wie vorüber.«
Er wurde nachdenklich. »Ja, die Maisernte«, sagte er wie zu sich
selbst. »Hoffentlich passiert so etwas nicht noch einmal.«
Annika hatte auch schon darüber nachgedacht. Sie machte sich große
Sorgen um Marita, auch wenn diese sich völlig unbekümmert gab, wenn man die
Gefahr eines weiteren Anschlags zur Sprache brachte.
Sie verfielen in Schweigen. Clemens schien in Gedanken bei dem
Unglück zu sein.
Annika deutete zur Tür. »Was wollte Melchior Vesting eigentlich
hier? Ich könnte dir nicht sagen, wann ich den zuletzt gesehen habe.«
»Er musste wegen Aalderk hierher ins Krankenhaus.«
Aalderk Vesting war sein behinderter Sohn, mit dem er allein auf dem
Gehöft lebte, seit seine Frau die Scheidung eingereicht hatte und fortgezogen
war. Keiner bekam Aalderk je zu Gesicht, Melchior Vesting verbarg ihn vor den
Augen der Nachbarschaft. Der Junge war geistig zurückgeblieben, saß im
Rollstuhl und hatte irgendeine seltene Hautkrankheit, die ihn völlig
entstellte. Die Kinder in Erlenbrook-Kapelle hatten alle ein bisschen Angst vor
dem hässlichen Jungen, der in dem dunklen Haus am Waldrand lebte, und wenn
Annika ganz ehrlich war, erging es ihr nicht anders.
»Melchior hat von dem Unfall gehört«, sagte Clemens, »und wo er
schon mal da war, hat er natürlich bei mir vorbeigesehen.«
»Ach ja?«
»Das ist doch ganz normal.«
Sie fand das überhaupt nicht normal. Eher merkwürdig. Sie sagte
jedoch nichts, und Clemens wechselte das Thema.
»Was macht die Arbeit bei der Zeitung?«
Sie lächelte. »Meine Chefin hat vorgeschlagen, dass ich mich als
Volontärin in Steinfurt bewerbe. Sie will ein gutes Wort für mich einlegen.«
»Wirklich? Das ist ja toll!«
Er versuchte, sich aufzurichten, verzog dann aber vor Schmerzen das
Gesicht und sackte zurück ins Kissen.
»Und?«, fragte er. »Wirst du es tun?«
»Ich weiß nicht. Marita braucht mich auf dem Hof. Wir haben
fünfundneunzig Kühe, du weißt, wie viel Arbeit die machen. Und Sophia und Tante
Ada werden älter.«
»Ach, da wird sich schon eine Lösung finden, glaub mir. Du musst an
dich denken.«
Sie zögerte. Eigentlich wollte sie das Thema nicht ansprechen,
solange er krank war. Doch jetzt überlegte sie es sich anders.
»Ich möchte dich um etwas bitten. Du kannst mir vielleicht bei der
Bewerbung helfen.«
»Wie denn? Schieß los.«
»Meine Chefin meint, ich soll mir etwas einfallen lassen, das sie
mal außer der Reihe in den Lokalteil schieben kann. Als Referenz sozusagen. Sie
denkt da an eine Reportage oder so. Ich habe auch schon eine Idee, doch da
brauche ich deine Hilfe.«
»Was kann ich tun?«
»Nun ja. Es gab doch diesen Banküberfall in Nordwalde, bei dem deine
Cousine die einzige Augenzeugin war. Ich dachte, vielleicht kannst du mit ihr
reden und sie davon überzeugen, dass ich ein Interview mit ihr mache. So ein
Augenzeugenbericht könnte unter Umständen eine schöne Sache sein.«
»Das macht sie bestimmt!«, sagte er freudig. »Ich werde meine Frau
bitten, sie anzurufen. Gleich heute Abend.«
»Ach was, das hat Zeit! Vielleicht sprichst du mit ihr, wenn du
wieder gesund bist.«
»Nein, nein. Das machen wir gleich heute. Ich möchte doch deine
Karriere unterstützen.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke schön.«
Eigentlich stammte die Idee nicht von ihr, sondern von Bernd Faber,
ihrem neuen Kollegen. Kurz bevor sie sich auf den Weg zum Krankenhaus gemacht
hatte, war der nämlich mit seinem Roller bei ihr aufgetaucht.
»Lisa hat mir erzählt, dass du hier wohnst. Ich komme jeden Tag auf
dem Weg nach Münster hier vorbei. Da dachte ich, ich halte mal an und sage
Guten Tag.«
Dabei gab er sich, als wären sie seit Langem die besten Freunde.
Annika war ein bisschen irritiert darüber. Um irgendetwas zu sagen, erzählte
sie ihm von dem Volontariat, für das ihre Chefin sie vorschlagen wollte, und
von ihrer Idee, mal etwas außer der Reihe zu machen. Einen Artikel oder
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