Bauernjagd
Heinrich
Uhlmann ist gezielt erschossen worden. Außerdem muss der Täter ortskundig
gewesen sein, um ungesehen zum Tatort gelangen und wieder verschwinden zu
können. Ich bin mir sicher, da gibt es eine vordeliktische Beziehung, die Frage
ist nur, welche.«
»Es hat übrigens einen weiteren Vorfall in Erlenbrook-Kapelle
gegeben. Ich weiß gar nicht, ob du das schon mitbekommen hast. Auf einem der
Höfe wurde ein totes Huhn vor die Haustür gelegt.«
Hambrock gönnte sich ein müdes Lächeln. »Doch, davon habe ich schon
gehört.«
»Und was sagst du dazu?«
»Keine Ahnung. Bislang wurde ohne Ankündigung getötet. Trotzdem
sollten wir die Sache ernst nehmen.« Er stand schwerfällig auf. »Wie auch
immer. Wir müssen ein Motiv finden. Dieser Uhlmann war doch kein Heiliger. Er
muss eine Leiche im Keller gehabt haben.«
Er war schon in der Tür, als er sich nochmals umdrehte.
Ȇbrigens, ich fahre heute Mittag nach Erlenbrook-Kapelle. Ich werde
für gut zwei Stunden weg sein, falls jemand nach mir fragt.«
»Du fährst raus?« Gratczek war überrascht. »Was gibt es denn so
Dickes, dass der Chef persönlich loszieht? Ich dachte, wir stehen bei null.«
»Wir stehen auch bei null. Ich fahre nur raus, um einem toten Huhn
meine Aufwartung zu machen. Entscheide selbst, ob das was Dickes ist.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
»Hat sich das noch nicht rumgesprochen?«
Sonst wurde doch auch immer alles sofort betratscht. Über seine
Eheprobleme wusste jedenfalls die ganze Kompanie Bescheid.
»Was denn?«, fragte Gratczek.
»Meine Tanten leben in Erlenbrook-Kapelle. Ihnen gehört der Hof, auf
dem das tote Huhn gefunden wurde.«
»Deine Tanten?«
»Ganz richtig. Und sie würden es mir wohl nicht verzeihen, wenn ich
nicht persönlich bei ihnen auftauche. Deshalb mache ich mich gleich auf den
Weg.«
Damit zog er die Tür ins Schloss und ließ Gratczek allein.
Clemens saß aufrecht in seinem Bett und las in einem Buch.
Er wirkte verändert. In sein Gesicht war die Farbe zurückgekehrt, außerdem
schien er gute Laune zu haben. Als er Annika eintreten sah, strahlte er übers
ganze Gesicht und legte das Buch weg.
»Ich komm heute raus, Anni. Was sagst du dazu?«
»Wirklich?«
»Die Ärzte machen später noch einen Check, aber heute Nachmittag
wird mich Gabriele abholen.«
»Das ist ja toll.« Sie bemerkte, wie groß der Stein war, der ihr vom
Herzen fiel. »Dann ist ja doch noch alles gut gegangen.«
»Ja. Ich bin dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen.« Er
grinste sie an. »Aber hast du etwas anderes von mir erwartet? Dachtest du etwa,
Clemens Röttger lässt sich vom Tod eins auswischen? Da kennst du mich aber
schlecht.« Er klopfte auf die Matratze. »Jetzt setz dich erst mal zu mir. Erzähl,
wie war’s bei meiner Cousine?«
Annika setzte sich aufs Bett.
»Traurig«, sagte sie. »Sie
hat sich in ihr Haus zurückgezogen wie in einen Kokon. Saß die ganze Zeit
einfach da und hat Kette geraucht.«
Es war für sie nicht leicht gewesen, das Interview zu führen. Annika
wusste ja, dass Clemens’ Cousine mit dem Überfall nicht fertigwurde und deshalb
starke Tabletten nahm. Doch als sie dann dieser dünnen und blassen Frau
gegenübersaß, war alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Zuerst
hatte sie ganz normal gewirkt. Aber dann war Annika aufgefallen, wie langsam
sie redete. Langsam und gleichmäßig, wie aufgezogen. Ihre Sätze besaßen kein
Auf und Ab, keine Satzmelodie. Das war ihr mit der Zeit ein bisschen unheimlich
geworden.
»Ich dachte zuerst, sie würde bestimmt zittern und zwischendurch
weinen und sehr schreckhaft sein oder verschüchtert … Aber stattdessen wirkte
sie wie eine Maschine.«
Er runzelte fragend die Stirn.
Annika zögerte. »Wie eine Sprechpuppe oder so etwas«, schob sie
vorsichtig nach. Die Formulierung, die ihr eigentlich durch den Kopf ging, war:
wie eine Untote. Aber das wollte sie Clemens gegenüber lieber verschweigen.
Sie erinnerte sich, wie Clemens’ Cousine sie in die Küche geführt
hatte. Während die Frau mit Bernd sprach, hatte Annika die ganzen vertrockneten
Blumentöpfe auf dem Fensterbrett betrachtet. Aus dem Augenwinkel hatte sie
gesehen, wie die Küchentür sich zu bewegen begann. Ein Windzug schlug sie laut
krachend ins Schloss. Sie selbst wäre vor Schreck fast gestrauchelt. Doch die
Frau sprach einfach weiter. Ohne Pause. Kein Stocken. Nichts. Als würde sie in
dem einen Film sitzen, und Annika mitsamt Bernd und der Küche in
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