Bauernjagd
Ruhe lag darin, Ruhe
und Glanz. Sein Gesicht mochte aussehen wie der schmutzige Panzer einer
Schildkröte, doch seine Augen funkelten darin wie Juwelen.
Die Krankengymnastin wandte seinen Kopf, so dass er zur anderen
Seite sah. Annika blieb jenseits der Scheibe seltsam berührt zurück.
Der Pfleger aus Clemens’ Zimmer tauchte hinter ihr auf.
»Du kannst ruhig zurück zu deinem Onkel gehen, ich bin längst fertig
mit ihm.«
Er ist nicht mein Onkel, lag es ihr auf der Zunge. Doch sie nickte
nur und wandte sich wieder der Glastür zu. Der Pfleger stellte sich neben sie
und folgte ihrem Blick.
»Was hat der Junge?«, fragte sie.
»Das Sjögren-Larsson-Syndrom. Eine seltene Form der Ichthyose.«
Annika sah ihn verständnislos an.
»Fischschuppenflechte. So nennt man das im Volksmund.«
Der Begriff kam ihr vage bekannt vor. Bestimmt hatte sie einmal im
Fernsehen etwas darüber gesehen. Sie deutete ein Nicken an.
»Kommt man mit zur Welt. Die Haut ist verhornt, reißt auf und wird
schuppig. Schön aussehen tut es nicht, es ist aber nicht ansteckend.«
Er wollte bereits weiter, doch Annika hielt ihn zurück.
»Und wieso sitzt er im Rollstuhl?«
»Er ist spastisch gelähmt, das kommt bei diesem Syndrom dazu.
Spastische Lähmung und mentale Retardierung, also geistige Behinderung.«
Sie legte die Hand an die Scheibe. »Armer Kerl.«
Der Pfleger betrachtete sie eingehend. Dann lächelte er. »Ich kenne
diesen Jungen gut. Er hat ein sanftes und freundliches Wesen, man kommt gut mit
ihm aus. Ich glaube nicht, dass er über seine Krankheit reflektieren kann. Ist
mehr im Hier und Jetzt, verstehst du? Da kann sich unsereins eine Scheibe von
abschneiden.«
»Aber er muss doch Schmerzen haben, oder?«
»Ja, die hat er bestimmt. Doch man kann was dagegen tun. Durch Hautpflege
lassen sich der Juckreiz und auch das Aufreißen der Haut vermindern. Eine gute
Ernährung ist ganz wichtig und dann natürlich Krankengymnastik wegen der
Spastik. Er hat noch Glück, sein Vater kümmert sich nämlich sehr um ihn. Er
übernimmt die ganze zeitaufwendige Pflege.«
»Sein Vater?« Sie konnte sich kaum vorstellen, dass der düstere
Melchior Vesting damit gemeint war.
»Ja, wieso nicht? Wundert dich das?«
»Nein, nein.«
»Er bringt ihn regelmäßig hierher. Die Kasse übernimmt nur einen
Teil der Behandlung, eine Menge zahlt er selbst.«
»Er muss für die Behandlungen zahlen?«
»Für einen Teil schon, es gibt einige sinnvolle OP s, die von der Kasse nicht übernommen werden. Außerdem
hat er bereits zwei Operationen bezahlt, die sonst nicht möglich gewesen wären.
Wahrscheinlich hat er das gesamte Familienvermögen dafür auf den Kopf gehauen.
Wie gesagt, der Junge kann sich glücklich schätzen, nicht jeder würde so etwas
tun.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Wie auch immer, ich muss jetzt weiter.
Dein Onkel wartet auf dich.«
Er lief den Flur hinunter und verschwand im Schwesternzimmer. Annika
blickte ihm nach.
Irgendwo musste Melchior Vesting das viele Geld aufgetrieben haben.
Er lebte schließlich vom Amt, jedenfalls erzählte man sich das. Der
Banküberfall, über den sie geschrieben hatte, kam ihr in den Sinn und auch die
unaufgeklärten Morde in Erlenbrook-Kapelle.
Nur zögernd löste sie sich von der Glastür und machte sich langsam
auf den Weg zurück zu Clemens’ Krankenzimmer.
11
An einer Pappel vor der Hofeinfahrt war ein Pappplakat
befestigt. »Bauern brauchen einen fairen Preis – 40 Cent pro Liter Milch« stand
in grellen Buchstaben darauf. Daneben eine bunte Milchkanne und das Logo des Bundesverbands
Deutscher Milchviehhalter. Hambrock fuhr mit dem Dienstwagen daran vorbei,
hupte zweimal und parkte zwischen Scheune und Wohnhaus.
Seine Kopfschmerzen waren ebenso wenig verschwunden wie seine
schlechte Laune. Verfluchte Verwandtschaft, dachte er. Im Grunde hatte er weder
Zeit noch Lust auf diesen Besuch bei Ada Horstkemper. Aber was tat man nicht
alles für die Familie. Zumindest würde er sich so einen Anruf seiner Mutter
ersparen, bei der Tante Ada sich bestimmt beschweren würde, wenn er nicht
persönlich auftauchte.
Er stieg aus dem Wagen. Ein vertrauter Dunggeruch wehte ihm
entgegen. Das Scheunentor stand weit offen und gab den Blick auf die
Bullenmastställe frei. Die großen Tiere kauten gemächlich das Futter aus den
Trögen. Sie ließen sich von dem Lärm des Radladers nicht aus der Ruhe bringen,
mit dem Marita hinter ihnen die Kälberställe ausmistete. Offenbar hatte seine
Cousine das
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