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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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einem ganz anderen.
    »Ich werde sie mal besuchen, sobald ich wieder fit bin. Vielleicht
kann ich mit ihr reden.«
    Annika betrachtete seinen breiten Oberkörper.
    »Wie lange wird das denn noch dauern? Ich meine, wissen die Ärzte,
wann du wieder voll einsatzfähig bist?«
    Er lächelte. »Das Schlimmste ist vorbei. Von jetzt an wird es jeden
Tag ein bisschen besser, und das ist die Hauptsache.« Er beugte sich vor und
flüsterte verschwörerisch: »In den Osterferien will ich zum Skifahren, das habe
ich Gabriele schon gesagt. Aber erzähl den Ärzten noch nichts davon. Sonst
drehen die durch.«
    Er wuschelte ihr zufrieden durchs Haar.
    »Und weißt du, was wir jetzt machen?«, sagte er. »Wir verlassen
dieses deprimierende Gebäude und rauchen eine Zigarette. Was hältst du davon?«
    Sie sprang vom Bett. »Ich bin dabei.«
    In dem Moment öffnete sich die Tür des Krankenzimmers, und ein
junger Pfleger trat ein, den Annika auf höchstens zwanzig schätzte. Sie kannte
ihn bereits von vergangenen Besuchen. Es war ein kleiner und etwas zu dick
geratener Blondschopf mit roten Wangen, der stets aufgesetzt gute Laune verströmte.
    »Ich störe ja nur ungern«, sagte er fröhlich, »aber ich muss Blut
abnehmen und ein paar Untersuchungen machen. Dauert nicht lange.«
    Clemens ließ sich wieder zurück ins Bett sinken. Er seufzte resigniert.
    »Annika, hast du vielleicht Lust, in die Cafeteria zu gehen und eine
Tafel Schokolade zu holen? Am liebsten mit Nüssen. Ich sterbe vor Hunger.«
    Der Pfleger lachte. »Sie sind wirklich auf dem Weg der Besserung.
Trotzdem würde ich an Ihrer Stelle noch mal überdenken, ob Sie wirklich auf
eigene Verantwortung das Krankenhaus verlassen wollen.«
    Annika blieb in der Tür stehen. »Du willst was?«
    Der Pfleger blickte sie überrascht an. »Das weißt du gar nicht? Er
schlägt alle Warnungen der Ärzte in den Wind und entlässt sich selbst.«
    Obwohl er das ganz fröhlich und mit einem Lächeln sagte, blickte
Clemens ihn finster an.
    »Mir geht es gut. Hör nicht auf den Quatsch, Anni. Die wollen hier
nur Geld mit mir verdienen. Dabei werde ich auf dem Hof dringend gebraucht.«
    Der Pfleger verdrehte ironisch die Augen. »Das geldgierige
Krankenhauspersonal.« Er wandte sich an Annika. »Achte ein bisschen auf ihn. Er
darf sich nicht anstrengen. Auf keinen Fall soll er schwere Arbeiten
erledigen.« Zu Clemens sagte er: »Ich weiß, das ist nicht einfach. Gerade für
einen Bauern. Trotzdem sollten Sie diesen Rat beherzigen.«
    Annika drehte sich um. »Ich hole mal die Schokolade«, sagte sie und
ging hinaus.
    Das war typisch Clemens. Natürlich war es ihm zu blöd, nutzlos im
Krankenhaus herumzuliegen. Besonders, wenn Gabriele alleine mit allem
klarkommen musste.
    Auf dem Weg zur Cafeteria begegneten ihr mehrere Patienten, denen es
weit weniger gut zu gehen schien. Auch wenn sie es nicht guthieß, dass Clemens
sich selbst entließ – insgeheim war sie froh, fürs Erste nicht mehr hierher
kommen zu müssen.
    Sie besorgte die Nussschokolade und machte sich eilig auf den
Rückweg. Dabei verlor sie jedoch die Orientierung und landete auf einer
Station, wo gemalte Kinderbilder an den Wänden hingen, umgeben von Clownsnasen
und gebastelten Mobiles. Sie sah sich nach einer Schwester um, die sie nach dem
Weg fragen konnte, als ihr Blick an einem behinderten Jungen hinter einer
Glastür hängen blieb.
    Es war Aalderk Vesting. Sie erkannte ihn sofort. Sein Vater verbarg
ihn zwar vor den Augen der Nachbarschaft, sodass Annika ihn erst zwei- oder
dreimal gesehen hatte. Trotzdem gab es keinen Zweifel. Seine verkürzte Haltung,
mit der er im Rollstuhl saß, der gesenkte Kopf und vor allem die schorfige, gelblich-braune
Haut, die vermutlich seinen gesamten Körper überzog, zumindest die sichtbaren
Stellen. Das alles machte ihn unverwechselbar.
    Sie blieb vor der Glastür stehen und betrachtete ihn. Aus der Nähe
und im hellen Licht des Krankenhauses wirkte er gar nicht mehr so Furcht
einflößend wie in der düsteren Umgebung des Gehöfts. Er musste ungefähr so alt
sein wie sie, doch er war kaum größer als ein zwölfjähriger Junge. Eine junge
Frau in weißer Kleidung hob ihn aus dem Rollstuhl und legte ihn auf eine Matte.
Sie strich ihm zärtlich über die Arme und begann mit einer Dehnübung. Da wandte
Aalderk plötzlich den Kopf und sah Annika direkt ins Gesicht.
    Seine Augen nahmen sie sofort gefangen. Sie hatten eine wunderschöne
bernsteinfarbene Iris, umgeben von schneeweißer Lederhaut.

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