Bauernjagd
seufzte. »Manchmal frage ich mich, wie gut wir unsere Nachbarn überhaupt
kennen.«
»Denkst du denn, dass jemand aus Erlenbrook-Kapelle hinter allem
steckt?«
»Glaub mir, ich weiß es nicht. Bernhard scheint allerdings davon
überzeugt zu sein.«
Sophia wollte etwas erwidern, doch da öffnete sich die
Wohnzimmertür, und Annika kam herein. Sie ließ sich auf einen Sessel fallen und
streckte die Beine von sich.
»Der Artikel ist fertig«, verkündete sie, »ich habe ihn gerade an
die Redaktion gemailt.«
»Prima. Er ist bestimmt ganz wunderbar geworden«, sagte ihre Mutter.
»Dürfen wir ihn lesen, oder sollen wir warten, bis er in der Zeitung steht?«
»Wenn ihr wollt, kann ich ihn ausdrucken. Aber das machen wir
morgen, okay?«
»Wie war es denn heute Vormittag in Altenberge?«, fragte Sophia.
»Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen.«
Annika machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es war ganz furchtbar,
wenn ich ehrlich sein soll. Clemens’ Cousine ist echt am Boden. Ich hätte nicht
gedacht, dass ein Mensch von einer solchen Sache dermaßen aus der Bahn geworfen
werden kann. Die steht immer noch unter Schock, wenn ihr mich fragt. Kann einem
echt leidtun.«
Ada nickte nachdenklich. »Keiner kann vorhersagen, wie er in einer
solchen Situation reagieren würde. Das weiß man wohl erst, wenn einem so etwas
selbst passiert ist. Möge Gott uns davor bewahren.«
Annika lächelte. »Du hättest dem Bankräuber sicherlich gehörig die
Leviten gelesen. Das hätte der sich kein zweites Mal getraut.«
Ada betrachtete zufrieden ihre Nichte. Sie gönnte sich ein
Schmunzeln. »Das kann ich nur hoffen. Beschwören würde ich es aber nicht.
Vielleicht wäre es mir auch genauso ergangen wie Clemens’ Cousine.«
»Vielleicht kann sie ja von Glück reden, dass der Räuber sie nicht
erschossen hat«, sagte Sophia. »Wer weiß schon, wie weit solche Leute gehen.«
Doch Annika zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte offenbar keine
Lust mehr, darüber zu reden.
»Guckt ihr Günther Jauch?«, fragte sie.
»Es geht gerade um die 16 000-Euro-Frage«, antwortete Sophia. »Diese
Sekretärin hat mehr Glück als Verstand.«
Für den Rest des Abends saßen sie vor dem Fernseher und ließen sich
von dem unvermuteten Glück einer kleinen Sekretärin aus Remscheid berauschen.
Das Flirren der Mattscheibe spiegelte sich in ihren Gesichtern wider, bis
irgendwann die Sendung zu Ende war und sie sich gähnend auf den Weg ins Bett
machten.
10
Als Sophia am nächsten Morgen das tote Huhn vor der
Haustür fand, fütterte Annika gerade die Kälber in der Scheune. Die Schreie
ihrer Mutter waren auf dem ganzen Hof zu hören. Annika schrak zusammen, der
Eimer mit der Biestmilch fiel vor ihr auf den Boden. Draußen sah sie, dass
Tante Ada bereits in der Tennentür aufgetaucht war. Marita kletterte ebenfalls
hastig aus dem Melkstall. Sie fanden Sophia in der offenen Haustür, wo sie sich
an den Rahmen klammerte. Jemand hatte dem Huhn den Kopf abgerissen und es
blutend auf die Fußmatte gelegt. Sophia hatte es, als sie in der Dunkelheit des
frühen Morgens die Zeitung holte, nicht rechtzeitig bemerkt und war hineingetreten.
Tante Ada nahm Sophia in den Arm und brachte sie ins Haus. Annika
und Marita blieben vor der Tür stehen und starrten das tote Huhn an.
»Fasst nichts an!«, rief Tante Ada ihnen zu. »Ich werde Bernhard
Hambrock anrufen.«
Eine halbe Stunde später tauchten zwei Streifenpolizisten auf, die
Fotos schossen, Fußmatte und Boden nach Spuren absuchten und mit wenig
Engagement Fragen stellten. Als sie wieder verschwanden, waren sie zumindest
feinfühlig genug, den Kadaver mitzunehmen.
»Ich verstehe nicht, warum Bernhard nicht selbst gekommen ist«,
sagte Ada, als sie fort waren.
»Er ist der Leiter der Mordkommission«, sagte Marita. »Er hat sich
bestimmt um wichtigere Dinge zu kümmern.«
Ada erwiderte nichts, doch ihr Gesichtsausdruck ließ darauf
schließen, dass sie anderer Meinung war.
Beim verspäteten Frühstück wurde nicht viel geredet. Sophia weigerte
sich, etwas zu essen, und trank nur Kaffee. Ada und Marita saßen etwas steif
daneben. Trost zu spenden, gehörte nicht zu ihren Stärken.
»Wer tut denn nur so was …?«, murmelte Ada immer wieder, doch
natürlich hatte keine eine Antwort darauf. Genauso wenig wie auf die Frage, was
es eigentlich zu bedeuten hatte, ein totes Huhn vor der Tür zu finden. Ein
gutes Omen war es jedenfalls nicht.
Nach dem Frühstück verschwand Sophia wortlos in ihrem
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