Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
sprach. »Hass ist immer Folge einer Demütigung. Es wird nicht nur Frust oder Kränkung, sondern echtes Gequältsein verspürt. Ihr Täter wurde gegebenenfalls einer massiven Qual ausgesetzt, die natürlich nicht körperlich erfolgt sein muss und ebenso gut mentaler Art gewesen sein kann. Dieses objektiv wahrgenommene Unglück bewirkt Hass und ist somit nicht ein einziger Reflex, sondern eher ein andauernd existenter Gefühlskomplex.«
»Das bedeutet, der Mann hasst schon seit Langem und nun geht er auf Rachefeldzug?«, versuchte Brauckmann zu verstehen.
»Ja. Vielleicht hat er auf die richtige Gelegenheit gewartet. Hassgefühle schlummern manchmal schier unendlich. Sehen Sie, wie bei Krimhild im Nibelungenlied. Nachdem Hagen von Tronje ihren Ehemann Siegfried umgebracht hat, wartet sie dreizehn Jahre, bis sie mit Etzels Brautwerbung die ersehnte Möglichkeit bekommt. Aber ich greife etwas vor. In diesem Gefühlskomplex strebt der Hassende nach Wiedergutmachung für seine Demütigung, nach seiner Gerechtigkeit, wie krude diese auch sein mag. Er will eine Situation der Macht über die Quelle seiner Qual. Wissenschaftler sprechen hier von der heißen Phase in einer Unterlegenheits-Überlegenheits-Spirale. Der Ausgleich erfolgt durch die Rache. Da der Gedemütigte glaubt, ein Recht auf sie zu haben, empfindet er bei seinen Taten keinerlei Reue oder Skrupel, sondern nur Genugtuung und Gerechtigkeit. Die einzige Angst, die er möglicherweise hat, ist die vor den eventuellen strafrechtlichen Folgen, da diese wiederum als ungerecht empfunden würden.« Donnerweiler beugte sich über seine Notizen. »Sie haben eben ausgeführt, dass der Mörder im Rahmen der zweiten Tat keinen religiösen Hintergrund mehr hervorhebt. Ich interpretiere die Hinweise auf Freikirchen als ein gezieltes Ablenkungsmanöver und vielleicht auch als Teil seines Plans. Als Versuch Görgen zum Sündenbock zu stilisieren. Stellen Sie sich nur den Erfolg vor, den Mann gleich zweimal zu bestrafen: erstens ihn zu töten und zweitens seinen Sohn ins Gefängnis zu bringen und dabei persönlich ungeschoren davon zu kommen.«
Lichthaus merkte auf: »Dem Muster sind wir dann ja schön gefolgt. Nur, warum gibt er die Maskerade auf?«
»Ja, das ist problematisch, und jetzt wird es sehr spekulativ, da uns Indizien fehlen. Eine mögliche Interpretation ist die, dass der Täter das bisher erreichte noch nicht als ausreichend, also als die Qual ausgleichend, ansieht. Er ist gezwungen seinen Rachefeldzug fortsetzen, selbst für den Preis, seine Tarnung aufzugeben. Wann die Tat als gesühnt angesehen wird, ist personenspezifisch und somit hier nicht zu beurteilen. Die Frage, die Sie nun klären müssen, ist, wo hat die Demütigung gelegen? Geht es um die Wiederherstellung des Selbstwertes, von Sicherheit oder der Gerechtigkeit? Da sollten Sie drauf achten. Im ersten Fall haben Sie es mit einer narzisstischen Störung zu tun gehabt, der eine Traumatisierung vorweggegangen ist, die allerdings subjektiv als solche wahrgenommen wurde und daher von außen schwer zu erkennen ist. Eventuell finden Sie einen Verdächtigen, der bereits in psychologischer Behandlung war. Alexander Görgen war eine gute Wahl, leider aber wohl die falsche.« Bedauernd schüttelte der Kriminalpsychologe seinen Kopf, wobei sein schlohweißes Haar sanft hin und her wogte. »Die Herstellung von Sicherheit führt nun jedoch zu einem zweiten Aspekt. Wenn der Rächende einen einstmals als sicher empfundenen Zustand erneut zu erreichen sucht und dies nur zuwege bringt, indem er brutal straft, kann seine Gemütslage durchaus anders – rationaler – sein. Man ist geschädigt worden und will nun verhindern, wieder der Leidtragende zu sein. Mafiamorde zum Beispiel folgen diesem Muster. Wird ein Mitglied der Familie getötet, muss die feindliche Familie ein ebensolches Opfer bringen, damit wieder Ruhe herrschen kann. Dagegen ist das Streben nach Gerechtigkeit vielseitig und auch subjektiv. Die immanente Gerechtigkeit glaubt an ein richtendes Schicksal und wartet auf den Ausgleich. Die ultimative Gerechtigkeit folgt auf die immanente Gerechtigkeit. Der Glaube an eine übergeordnete Kraft schwindet und lässt den oder die Täter aktiv werden. Suchen Sie nach Situationen, in denen die beiden Opfer, gemeinsam oder nacheinander, Konflikte mit Personen hatten, die genau an dieses Gerechtigkeitsgefühl rühren. Das kann in jedem Lebensbereich erfolgt sein, ich vermute aber, dass die politische, die berufliche
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