Bauernopfer
Regale weniger, dafür einige Schachteln mit Asservaten mehr, aber nichts von dem gesuchten Fall. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Gustl, dem Herrn der Akten. Wie Quasimodo im Glockenturm, so hauste er im Aktenraum, wo die gesammelten Werke bekannter Täter in Hängeordnern verwahrt wurden. Gustl räumte ein, dass immer mal wieder alte Unterlagen verschwänden. Insbesondere wenn der Platz in den Räumen der KPI knapp zu werden drohte, ordnete man irgendwelche rekonvaleszenten Beamten von allen möglichen Dienststellen für einige Wochen zur Kripo ab mit der Aufgabe, den Aktenbestand auszudünnen. Gerade bei einem Vorgang, der nachträglich noch einmal ausgegraben worden war und damit wieder oben auf dem Stapel lag, konnte sich Gustl sehr gut vorstellen, dass man die Akten entsorgt hatte.
Charly musste nicht lange überlegen, wer der dienstälteste Beamte bei der Kripo war. Er fand Nager telefonierend in seinem Büro. Mit einem Nicken begrüßte er Charly und deutete ihm, sich zu setzen. Charly lauschte dem Plätschern des Zimmerbrunnens und den kryptischen Begriffen aus dem Bereich des Bilanz- und Rechnungswesens, die Nager mit sonorer Stimme in den Hörer schickte. Vermutlich telefonierte er mit einer Rechtsanwältin, denn es hörte sich an wie ein Flirt, als er darüber verhandelte, was ihr Mandant zugeben könnte, was man ihm ohnehin nachweisen konnte und welche Summen wohin geflossen waren.
»Charly, was kann ich für dich tun?«, fragte er, als er fertig war.
Charly erzählte von dem Zusammenhang zwischen dem Fall Bichler und der Spur aus dem Jahr 1975, berichtete von den verschwundenen Akten und fragte schließlich, ob Nager noch etwas von dem Raubmord wüsste. Nager lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander, spitzte die Lippen und blickte ins Leere.
»’75? Damals waren wir noch in der Mauthstraße, dort wo heute die Stadtbücherei ist.« Offenbar versetzte er sich gedanklich in die Zeit zurück. »Chef war der Papa Braun, ein herzensguter Mensch, und ich war blutjung und seit knapp einem halben Jahr bei der Kripo. ’74 war die Fußball-WM, da bin ich zur Kripo gekommen. Genau, und im Frühling ’75 war dann ein Mord in Haunwöhr. Ein Firmenbesitzer in seiner Wohnung erschlagen, glaub ich. Alles durchwühlt. Hat damals ziemlich viel Aufsehen erregt, ist aber nie was rausgekommen, soweit ich weiß.«
»Und wer hat den Fall bearbeitet?«
»Tja, jetzt wart mal«, sinnierte Nager. »Der Braun war der Chef … der Westner war der K1-Leiter … und dann waren da noch der Eckenzeller Franze und der Meier Neudorf, aber das war ein Depp … die Bäcker Rosi und die Schuster Kleinle-Betty, aber denen hat man damals so einen Fall nicht gegeben. Eigentlich kann’s nur der Stöbner Luk gewesen sein. Genau, der Luk hat den Fall bearbeitet.«
Auf die Frage, ob der Luk noch lebe, erzählte Nager, dass er ihn erst vor kurzem im Mooshäusl bei einer Radi-Brotzeit getroffen habe. Die Frage nach Luks Adresse beantwortete Nager mit dem Griff zum Telefonbuch. Er blätterte kurz und ehe sich Charly versah, griff Nager zum Hörer. »Grüß dich, Stöbner.« Nach einer kurzen, höflichen Plauderei erklärte er dem Pensionisten die Situation und vereinbarte für Charly ein Treffen für den Nachmittag.
Nach dem Mittagessen fuhr Charly zusammen mit Sandra nach Großmehring. Stöbners kleines Häuschen, erbaut in den sechziger Jahren, stand in einer Reihe mit mehreren Häusern aus der gleichen Zeit und machte einen sehr gepflegten Ein druck. Es kuschelte sich in dem liebevollen Garten regelrecht zwischen Teich, Laube, Freisitz und altem Baumbestand an der hinteren Grundstücksgrenze. Wider Erwarten öffnete ihnen kein kleines, verschrumpeltes Männchen die Tür, sondern ein vor Kraft strotzender, braun gebrannter 70-Jähriger mit schneeweißen, kurzen Haaren. Er trug eine Jeans und trotz der kühlen Temperatur ein kurzärmliges Holzfällerhemd. Hinter ihm erschien eine Frau, genauso braun gebrannt und genauso groß wie ihr Mann, mit hellblonden Haaren und dem Aussehen einer 50-Jährigen. Auch sie trug eine Jeans und eine kurzärmlige hellblaue Bluse.
Lächelnd streckte Stöbner ihnen die Hand entgegen.
»Kollege Valentin, oder? Servus. Und die Kollegin Englberger. Ja, mein Gott, wenn wir damals so junge, hübsche Frauen bei der Kripo g’habt hätten, dann wär ich ned in Pension gegangen.« Er stellte sich als Luk Stöbner und die Frau als seine Lisa vor und bat sie dann ins Haus, weil Lisa
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