Bauernopfer
Helmuth überflog den kurzen Text, pfiff leise durch die Zähne und legte das Blatt in den Eingangskorb.
Dienstag, 28. Oktober
Es war empfindlich kühl an diesem Morgen und es regnete immer wieder. Charly fröstelte in seinem kurzärmligen Lieblingshemd, das er wohl zum letzten Mal tragen konnte, bevor er zu seinem langärmligen Lieblingshemd wechseln musste. Aber nicht nur deshalb war er an diesem Morgen schlecht gelaunt. Es hatte schon gestern Abend zu regnen begonnen und auf dem Schotterweg zum Reitstall mit den großen Pfützen und Löchern hatte er den frisch gewaschenen Wagen wieder völlig versaut. Zudem hatte Julia nach dem Reiten an ihren Stiefeln den Sand der halben Reithalle mit ins Auto gebracht und die fuchsbraunen Haare ihres Lieblingsreittieres auf dem Beifahrersitz verteilt. Im Auto roch es wie auf einer Ranch. Zum Abendessen hatte er dann Sojakeimlinge, Bambussprossen und Rohkost mit einem grobkörnigen Vital-und-Gesund- Dip und jeder Menge stillem Mineralwasser genießen dürfen. Zu guter Letzt war der romantische Ausklang, den er sich in Gedanken für den Abend ausgemalt hatte, am Knoblauchgeruch von Mehmets Döner gescheitert.
Kein Wunder also, dass er heute brummig und muffig war. Das Einzige, was Charly an diesem Morgen freute, war der leere Platz auf seinem Schreibtisch, wo gestern noch der Stapel von Alltagsfällen auf sein Sachbearbeitergewissen gedrückte hatte. Stattdessen stand jetzt eine Flip-Chart im Büro. Sandra hatte auf das erste Blatt zwei Kreise gemalt und den einen mit ›Fall Bichler‹, den anderen mit ›Fall Spachtholz‹ bezeichnet. Drum herum hatte sie die Namen von Personen und Spuren drapiert, die in den Fällen auftauchten und diese mit den jeweiligen Fällen durch Linien verbunden. Einen dritten Kreis, oder so etwas ähnliches wie einen Kreis, hatte sie mit ›unbekannte DNA‹ beschriftet und mit beiden Fällen verbunden, wobei auf der Linie zum Fall Bichler das Wort ›Waffe‹ stand, auf die Verbindung zum Fall Spachtholz hatte sie ›Fingernägel‹ geschrieben. Die einzige Person, von der aus Striche zu beiden Fällen führten, war Gessler, dessen Name unten auf dem Blatt stand. Ganz unten in die Ecke hatte Helmuth geschrieben: ›Wer das liest, ist STUPID‹ .
»Ist gestern noch gekommen, nachdem du weg warst«, brummte Helmuth und reichte Charly das Fax des BKA. Es handelte sich um das vorläufige Ergebnis der Historie der Tatwaffe. Die Browning war 1982 in Belgien hergestellt und in den asiatischen Raum exportiert worden. Rechtmäßiger Besitzer war zuletzt ein Hoteleigentümer in Kuala Lumpur, dem die Waffe 1995 bei einem Einbruch in seine Villa gestohlen worden war. Seitdem fehlte von der Pistole jede Spur.
»Aha«, sagte Charly tonlos, als hätte er einen Auszug aus der letzten Regierungserklärung gelesen.
»Kuala Lumpur ist die Hauptstadt von Malaysia«, erklärte Helmuth.
»Aha«, sagte Charly noch einmal, wobei er diesmal das hintere »a« betonte und in die Länge zog. Mit hochgezogenen Augenbrauen las er das Fax nochmals durch.
»Das ist ja … ein Mosaiksteinchen!«, stellte er fest und ging zur Flip-Chart. Zwischen die beiden Fälle zeichnete er einen weiteren, recht unvollkommenen Kreis, in den er ›Malaysia‹ schrieb. Dann zog er einen Strich zu dem Wort ›Waffe‹ und einen zweiten Strich zum Namen ›Gessler‹.
»Okay, sehr interessant«, resümierte Charly beim Betrachten seines Werkes. »Doch zuerst müssen wir unsere Hausaufgaben fertig machen, dann schauen wir weiter.«
Jeder vertiefte sich also schweigend noch einmal in die Akten des alten Falles, um letzte Vernehmungen und Vermerke zu lesen, und eine Zeit lang wurde die konzentrierte Stille nur vom Surren der Neonröhren durchbrochen.
Nachdem er den Rest der Ermittlungsakten gelesen hatte, rief Charly bei Frau Gambrini-Steinmetz an. Er wollte die Staatsanwältin dazu bringen, einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung und die Firma des Ignaz Gessler zu erwirken.
»Das ist aber sehr dürftig, was wir da haben«, nörgelte sie.
»Durch die DNA-Spur wissen wir, dass die beiden Fälle zusammengehören. Bis jetzt ist Gessler die einzige Person, die in beiden Verfahren auftaucht«, erwiderte Charly.
»Kann ein dummer Zufall sein.«
»Die DNA von der Waffe stammt nicht vom Bichler und in der ganzen Bichler-Wohnung findet sich kein Hinweis auf einen Lagerplatz für eine Pistole. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Täter die Waffe mitgebracht hat.«
»Kann sein, muss aber
Weitere Kostenlose Bücher