Baustelle Demokratie
Bürgergesellschaft muss daher unter den Vorzeichen eines neuen Demokratieverständnisses reformuliert werden. Das bürgerschaftliche Engagement und die ihm zugrunde liegende lebensweltliche Verständigungslogik sind dabei maßgebend.
Der besondere Clou an diesem demokratischen Wandel, um den es hier geht, ist, dass er nicht nur den Staat und seine Akteure, sondern das demokratische Gemeinwesen als Ganzes betrifft. Das bedeutet, dass sich auch die Wirtschaft und die Bürgergesellschaft selbst – jeweils in der ihnen eigenen Perspektive – fragen lassen müssen, wie sie auf demokratische Mitbestimmung und Transparenz eingestellt sind. Somit stellt sich die Förderung von Bürgergesellschaft und demokratischem Gemeinwesen als eine Aufgabe dar, die alle gesellschaftlichen Bereiche berührt. Einige Leitfragen, die weiter unten wieder aufgegriffen werden, seien hier bereits formuliert:
Staat: Inwiefern sind staatliche Akteure und Institutionen heute tatsächlich zur Verantwortungs- und Machtteilung bereit? Was muss der Staat tun, um bei der Förderung des Engagements vom bloßen »Zuwendungsgeber« zum Partner der Bürgergesellschaft zu werden? Welche Rolle spielt die Politik in Parlament, Regierung und Verwaltung? Welche Verantwortung hat der Staat für die bürgergesellschaftliche Infrastruktur? Wie ist eine langfristige Förderung des bürgerschaftlichen Engagements jenseits von Modellprogrammen denkbar?
Wirtschaft: Wie hängen die Geschäftsmodelle von Unternehmen mit ihrem gesellschaftlichen Engagement zusammen? Gibt es tatsächlich gleichberechtigte Partnerschaften zwischen Unternehmen und Non-Profit-Organisationen? Und welchen Einfluss haben die »Stakeholder« – also alle vom unternehmerischen Handeln Betroffene – auf Unternehmensentscheidungen? Kann es da, wo unternehmerisches Handeln die Gesamtgesellschaft betrifft, zumindest Ansätze von Wirtschaftsdemokratie geben?
Bürgergesellschaft: Wie halten es Non-Profit-Organisationen mit der Transparenz? Welche Legitimation haben Vereine und Verbände, wenn sie sich öffentlich für oder gegen bestimmte Interessen engagieren? Und wie kommen eigentlich innerhalb von Organisationen Entscheidungen zustande?
Diese Fragen muten zunächst unspektakulär an. Doch schon flüchtige Gespräche beim Stehempfang der Tagung X oder Y mit Ministerialbeamten, Parlamentariern, Managern und Verbandsfunktionären offenbaren schnell die Reizpotenziale. Damit die Bürgergesellschaft sich zum Nutzen aller frei entfalten kann, bedarf es mancher Einschränkung und Zumutung. Politik gibt Kontrollmacht ab, Wirtschaft demokratisiert sich, und Bürgergesellschaft öffnet sich – drei »Baustellen«, die es in sich haben, wenn man sich tatsächlich daranmachen will, demokratische Erneuerung voranzutreiben. Doch es lohnt sich. Wer die Potenziale für die Fortentwicklung der Bürgergesellschaft ergründet, erkundet damit zugleich auch die Möglichkeiten einer Vitalisierung der Demokratie in Deutschland, die nicht durch noch so gut gemeinte institutionelle Reformen, sondern nur durch starke partizipatorische Impulse aus der Mitte der Gesellschaft gelingen kann.
Fortentwicklung der Bürgergesellschaft heißt dabei nicht nur, Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement zu verbessern. Es heißt zugleich, die »soziale Frage« neu zu stellen. Engagementpolitik ist nicht nur Demokratiepolitik, sondern auch Sozialpolitik. Solange nicht die aus sozialer Ungleichheit resultierende Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft geschlossen wird, kann auch die Bürgergesellschaft nicht im hier annoncierten Sinne funktionieren. Sie wird dann immer ein mehr oder weniger idealistischer Reparaturbetrieb für das Versagen wirtschaftlicher Verantwortung und staatlicher Regulierung oder auch eine Spielwiese für Sonntagsredner bleiben, aber niemals diejenige Sphäre des demokratischen Gemeinwesens, in der die Voraussetzungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität geschaffen werden können. Das tägliche Wirken von über 23 Millionen engagierten Menschen in Deutschland könnte ein Grundbaustein für das Funktionieren der Demokratie und ihrer Verfahren sein, doch solange nicht ernst gemacht wird mit »harten« Themen der Umverteilung, mit einem Angriff auf undemokratische ökonomische Macht und falsche politische Prämissen, so lange muss auch die Bürgergesellschaft weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.
Damit ist der Horizont für die folgenden Überlegungen
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