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Baustelle Demokratie

Baustelle Demokratie

Titel: Baustelle Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serge Embacher
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wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich überhaupt kommen konnte, der kommt nicht umhin, einige Begriffe aus dem Arsenal linker Gesellschaftskritik zu reaktivieren. Mag auch die politische Bilanz der Linken 150 Jahre nach ihrem Aufkommen ambivalent und ihre Geschichte von Irrtümern und moralischer Zwielichtigkeit gezeichnet sein, ihre Stärke war immer die Analyse der bestehenden Verhältnisse. Es bleibt daher weiterhin aussichtsreich, Begriffe wie Ausbeutung und Prekarität ins Zentrum der Analyse zu rücken.
    Ausbeutung und Übervorteilung von Menschen zugunsten anderer Menschen bleiben die Ursachen und treibenden Kräfte für die soziale Drift, die wir heute erleben. Bei aller Differenziertheit im Detail: Immer geht es um System gewordene Gier und Rücksichtslosigkeit auf der einen und strukturell bedingte Unterlegenheit auf der anderen Seite. Und es geht um einen Sozialstaat, der bei seiner derzeitigen Ausrichtung offenbar immer weniger in der Lage ist, korrigierend in diese Entwicklung einzugreifen.
    Prekarität und Ungewissheit in der Welt der Erwerbsarbeit sind Ausdrucksformen einer mittlerweile fest etablierten und auch weithin akzeptierten oder zumindest als unabänderlich hingenommenen Ungerechtigkeit: Es gibt Menschen, die in unsicheren Verhältnissen »schlechte Arbeit« verrichten müssen – und es gibt andere, die davon profitieren. Dass die Profiteure und ihre Adepten die These verfechten, alles sei »sozial«, was Arbeit schaffe, und wider alle Empirie behaupten, auch jede schlechte Arbeit führe potenziell zu gesicherten und gut bezahlten Vollzeitjobs, vermag die Tatsache nicht zu verdecken, dass sich die Bedingungen in der Arbeitswelt für lohnabhängig Beschäftigte seit vielen Jahren kontinuierlich verschlechtern.
    Die Reallöhne (also die nach Abzug von Preissteigerung und Inflation verbleibenden Nettoeinkünfte) stagnieren oder sinken, während die Einkommen aus Vermögen oder Kapital exorbitant gestiegen sind und stetig weiter steigen. Eine weitere und ebenso gewichtige Ursache für die Misere ist die hartnäckige Massenarbeitslosigkeit als Ausdruck einer Strukturkrise der Erwerbsarbeit. Die Arbeitslosigkeit ist – wie schon seit dem 19. Jahrhundert(!) – der Treibstoff, der die Entwicklung in Richtung Prekarisierung und Destabilisierung forciert. Die »Reservearmee« (Karl Marx) der Erwerbslosen wirkt bis heute wie ein Droh- und Erpressungspotenzial, das in den Jahren der Vollbeschäftigung in der »alten« Bundesrepublik vorübergehend aus dem Blick geraten war, das aber im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung von Wirtschaftsstrukturen wieder eindrücklich vor Augen steht und eine Erfindung wie die »Aktivierende Arbeitsmarktpolitik« erst möglich gemacht hat.
    Dabei hatte man im Zeitalter der Klassenkämpfe zwischen Kapital und Arbeit zwischenzeitlich eine tragfähige Kompromisslinie gefunden – eine Linie, bei der das kapitalistische Wirtschaftssystem so reguliert wurde, dass möglichst viele vom Wohlstand profitieren können, ohne das System als solches zu beeinträchtigen. Der Sozialdemokratie kommt hier das historische Verdienst zu, eine neue Kultur der materiellen Teilhabe initiiert und erkämpft zu haben, die bis heute für die meisten Menschen den Maßstab für »gute Arbeit« bildet: geregelte Arbeitsverhältnisse mit bezahltem Urlaub, Arbeitszeitbegrenzung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutz, paritätisch finanzierte Sozialversicherung, Arbeitnehmerschutzrechte, Arbeitsgerichtsbarkeit und starke Gewerkschaften, die in geregelten Verfahren mit dem Arbeitgeberlager verbindliche Flächentarifverträge für alle lohnabhängig Beschäftigten aushandelten. Geschäftsmodelle, die nur auf der Basis von Leiharbeit, Niedriglohnbeschäftigung und befristeten Jobs funktionieren (weil sie sonst nicht profitabel wären), waren entweder verboten oder nicht durchsetzbar beziehungsweise schlicht unvorstellbar. Banken waren vor allem dazu da, Kredite für Investitionen zur Verfügung zu stellen und damit wirtschaftliche Entwicklung finanziell zu ermöglichen. Noch vor 20 Jahren wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, Renditen von 20 Prozent und mehr zu erwarten, wie das heute die Deutsche Bank und ihr nacheifernd viele andere Institute tun. Finanztransaktionsinstrumente wie Hedge Fonds, Derivatehandel und Leerverkäufe waren verboten, weil die plausible Ansicht vorherrschte, dass mit ihnen keine der Realwirtschaft dienende Funktion verbunden sei und ein zu

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