Baustelle Demokratie
Visionen hat, soll zum Arzt gehen«, lautete das berühmte Diktum eines berühmten Menschen. Eine Gesellschaft ohne Visionen wäre jedoch dem Untergang geweiht. Sie befände sich in der Phase der Dekadenz, also wörtlich des Verfalls oder Niedergangs. Riesige Reiche sind im Laufe der Weltgeschichte untergegangen, weil das, was sie stark und wirkungsmächtig gemacht hatte, nicht erneuert wurde und sich überlebt hatte, weil die Zeitläufte über sie hinweggegangen sind. Und auch unsere demokratische Gesellschaft samt Rechtsstaat und freiheitlicher Verfassung verfügt über keine Bestandsgarantie. Ohne Zukunftsentwürfe kann es auch für eine Demokratie keine Zukunft geben – zumindest keine, in der man gerne leben würde. Doch ist die Lage noch komplexer. Das Problem unserer Gegenwart ist ja nicht der Mangel an sogenannten Visionen. Jeder Konzern, der etwas auf sich hält, hat heutzutage sein »Mission Statement«. Permanent werden in Politik, Kommunen, Stiftungen, Verbänden, Vereinen und Unternehmen Leitbilder entworfen, verworfen und wieder neu produziert. Das Problem dabei ist die eigentümliche Visionslosigkeit der Visionen, die man erkennen kann, sobald man sich der Textsorte »Wir über uns« nähert. Dort gibt es eine elaborierte und optimistische Sprache des Aufbruchs, des Beginnens und des Bekennens zu »Werten«, doch ebenso eine grassierende und auffallende Kraftlosigkeit, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit.
Es spricht einiges für die These, dass dieser Mangel an Kraft und Orientierung darauf zurückzuführen ist, dass die »postsolidarische Gesellschaft« über kein gemeinsames moralisches Zentrum mehr verfügt, an dem man sich orientieren könnte. Dabei ist es nicht schwer, einige grundlegende Anhaltspunkte dafür zu benennen. Menschenrechte und soziale Bürgerrechte bieten – wie seit nun schon über 200 Jahren – einen zuverlässigen Maßstab sowohl der Kritik als auch der Reformulierung von Visionen und Programmen. Die Idee unveräußerlicher Rechte des Einzelnen, die aber nur garantiert werden können, wenn die Gesellschaft frei und gerecht ist, bietet nach wie vor verlässliche Orientierung. Da sie aber für sich genommen ein Abstraktum ist, braucht sie eine reale Entsprechung, eine gesellschaftliche Sphäre, die dafür steht und in der man zugleich an ihrer Verwirklichung arbeiten kann. Und sie braucht den Mut, Widersprüche und Paradoxien zu benennen: Man kann eben nicht für ökologische Erneuerung sein und ein 400-PS-Auto fahren. Man kann nicht für Leiharbeit und Niedriglohnbeschäftigung sein und für soziale Gerechtigkeit. Man kann nicht für Informationsfreiheit und Bürgerrechte sein und Überwachungskameras im öffentlichen Raum installieren. Man kann nicht für die Gleichstellung der Geschlechter sein und gegen den massiven Ausbau der Kinderbetreuung (und für ein »Betreuungsgeld«). Man kann nicht für die Interessen von Arbeitnehmern sein und gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Und ebenso kann man nicht für die Freiheit der Märkte und gegen internationale Finanzspekulationen und gewiefte Zocker sein.
Diese Reihe von Widersprüchen und Paradoxien, die im massenmedialen Diskursgewitter täglich zu vernehmen sind, ließe sich endlos fortsetzen. Sie zu überwinden und zu neuen, tatsächlich Orientierung gebenden Leitbildern und Visionen zu gelangen kann nicht oder nicht allein Aufgabe der systemisch verhärteten Sphären der Politik und der Ökonomie sein. Das hieße den Bock zum Gärtner machen. Im Folgenden wird vielmehr die Sphäre der Bürgergesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements als Favoritin für die Durchsetzung, den Erhalt und den Ausbau von Menschenrechten und sozialen Bürgerrechten in den Mittelpunkt gerückt. Die gemeinschaftsstiftende Kraft des bürgerschaftlichen Engagements ist ein zentrales Element für die Wiedergewinnung gesellschaftlicher Solidarität und damit auch einer Vitalisierung der Demokratie (Roland Roth). Die Bürgergesellschaft und die mit ihr einhergehende Bereitschaft zum Engagement und zur Übernahme von Verantwortung sind geeignet, zur treibenden Kraft der Modernisierung unseres angeschlagenen demokratischen Gemeinwesens zu werden.
Wenn diese Idee formuliert oder reformuliert ist, darf man selbstbewusst die Stimme erheben und die Zumutung »Unterm Strich zähl ich!« zurückweisen. Dann wäre der Weg frei für ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen, in dem individuelle und öffentliche Freiheit wieder in ein
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