Baustelle Demokratie
Gewinnmaximierung und die Verrechtlichung unserer Lebensverhältnisse prägen unseren Alltag in einer Tiefe, die noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre. Nahezu alle Lebensbereiche sind entweder unter das Primat eines ökonomisierenden Effizienz- und Gewinndenkens gefallen oder so stark verrechtlicht beziehungsweise bürokratisiert, dass alternative Lebens- und Denkweisen heute nur noch in der Form von Nischen- und Randexistenzen eine Chance haben, aber nicht mehr als ernsthaft zu debattierende Entwürfe für neue gesellschaftliche Visionen. Fast fühlt man sich an jenes stahlharte Gehäuse der Hörigkeit erinnert, von dem schon Max Weber sprach, um die Auswirkungen einer instrumentell verkürzten und bürokratischen Vernunft zu kennzeichnen. Damit es nicht unser Fatum wird, bedarf es einer Neuorientierung auf die gestaltende Kraft und die kommunikative Macht des bürgerschaftlichen Engagements. Doch davon später, zunächst weiter in der Diagnose unserer schwierigen Zeit.
Alle zwei bis drei Wochen liest man Zeitungsartikel, in denen eine Politik »jenseits des Tellerrands« gefordert wird, in denen man sich charismatische Politiker mit visionären Entwürfen wünscht. Diese Forderungen – so berechtigt sie sein mögen – müssen ins Leere laufen in einer Welt, die derartig und in fast schon gespenstischer Weise dem Denken in ökonomischen oder juristischen Kategorien unterworfen ist. Dies ist die Welt der »Aktivierenden Arbeitsmarktpolitik«, in der soziale Bürgerrechte mit Zwang verbunden werden (»Workfare«) und in der soziale Sicherheit immer weniger zählt. Denn soziale Sicherheit gilt als unökonomisch und ineffizient, sie ist für jene da, die dem Dauerdruck einer entfesselten Ökonomie nicht standhalten können. Zu dieser Welt passt ein Staatsverständnis, das den Staat als eine bürokratische Maschine zur Ausübung administrativer Macht sieht, aber nicht als Ermöglichungsinstanz für die freie Entfaltung einer demokratischen Solidargemeinschaft. Staatliche Administration und Ökonomie beziehungsweise ökonomisches Denken haben sich verselbstständigt und von den Bedürfnissen der Lebenswelt und der darin lebenden Menschen entkoppelt. Sie sind – im Luhmann’schen Sinne – selbstbezüglich und selbstgesteuert (Luhmann 1987). Das glauben Sie nicht? Das halten Sie für soziologische Phantasie? Ein Blick auf das verzweifelte Bemühen der Politik, die Folgen der weltweiten und existenzbedrohenden Finanzkrise in den Griff zu bekommen, reicht schon aus, um die Selbststeuerung und Selbstbezüglichkeit des ökonomischen Systems plastisch vor Augen zu führen. Und wer sich fragt, warum es nicht möglich ist, das Bildungs- oder Gesundheitssystem zukunftstauglich zu reformieren, der wird im Hinweis auf die erschreckende Selbstbezüglichkeit von Politik und Verwaltung nicht die schlechteste Antwort finden.
So steht es, und so muss man beginnen, wenn es heute noch eine Aussicht auf neue Strategien zur Rückgewinnung gesellschaftlicher Solidarität geben soll. Die ehrliche Ausgangsdiagnose lautet: Solidarität ist weitgehend verschwunden. Gesellschaftliche Solidarität, verstanden als eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, sozialen Zusammenhalt und damit Menschen- und soziale Bürgerrechte zu sichern, hat heute einen schweren Stand. Zwar gibt es viele solidarische Menschen, die sich engagieren, die helfen, die sich mühen für andere; doch ist ihr Streben heute nicht viel mehr als eine zwangsläufig mangelhafte Kompensation für das Versagen gesamtgesellschaftlicher und staatlich garantierter Solidarität. Im Kleinen lobt man die zahllosen Helfer und Freiwilligen in Pflege, Gesundheit, Sozialem, Sport und anderen Bereichen. Sobald die Debatte aber die Sphäre der »Projekte« und lokalen Initiativen verlässt, sobald es um das große Ganze und damit um die Verteilung von Reichtum und Macht, von materiellen Ressourcen und gesellschaftlichem Einfluss geht, ist die Solidarität am Ende. Dann beherrschen Lobbyismus und knallharte Interessenvertretung die Szene, und es gilt einzig und allein der Gedanke: »Warum soll ich etwas abgeben, wenn andere nicht auch abgeben?« Oder mit anderen Worten: »Unterm Strich zähl ich!« Die meisten Engagierten wissen das auch; umso bewundernswerter ist ihr Engagement für die Gesellschaft. Es ist dieses »Dennoch!«, das im bürgerschaftlichen Engagement zum Ausdruck gelangt, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in sich trägt.
Vision und Neubeginn
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