Baustelle Demokratie
möglich, als eine Art Gemeinplatz eingenistet hat. Wir leben in einer Zeit der Skeptiker und Zyniker, der neunmalklugen »Analysten«, der Glücksritter und Apologeten des Zerfalls. Das alles mag (manchmal) unterhaltsam und auch medienwirksam vermarktbar sein, weiterhelfen wird es indes nicht! Denn das Programm der Moderne bleibt so lange aktuell, wie es nicht erfüllt ist. Solange nicht Menschenrechte und soziale Bürgerrechte – also demokratische und materielle Teilhabe – für alle Menschen Wirklichkeit sind, kann man von diesem politischen Großprogramm namens Aufklärung nicht lassen – es sei denn, man würde akzeptieren, dass Grundrechte eben doch nicht für alle gelten sollen. Kann man das? Nein, man kann nicht! Und damit bleibt es – bei aller »postmodernen« Verwirrung – Auftrag für alle politisch denkenden Menschen, sich an der weiteren Verwirklichung von Aufklärung und Menschenrechten zu versuchen.
Denn seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Aufbrechen der Orientierung gebenden Einteilung der Welt in klare Blöcke, in Freund und Feind, regiert endgültig die »neue Unübersichtlichkeit«, von der Jürgen Habermas schon in den 1980er-Jahren sprach (Habermas 1985). Jahrzehntelange Gewissheiten sind brüchig oder gar obsolet geworden. Nach dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stehen uns die »Grenzen des Wachstums«, das Ende des »Traums immerwährender Prosperität« (Burkhard Lutz), die Herausforderungen einer multiethnischen Gesellschaft, die Gefahren durch hochriskante Großtechnologien, der drohende Zerfall gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Krise des demokratischen Gemeinwesens samt Wohlfahrtsstaates klarer denn je vor Augen.
Wenn man die Bürgergesellschaft, wie es hier erklärtes Ziel ist, als Schlüssel für die Lösung unserer modernen Probleme ins Zentrum demokratischer Politik rücken und die Bedingungen für ihre Entfaltung ernsthaft verbessern will, muss man mit der Analyse derjenigen gesellschaftlichen Faktoren und Tendenzen beginnen, die der Entfaltung des bürgerschaftlichen Engagements im Wege stehen beziehungsweise für sie relevant sind. Die Bürgergesellschaft aufzuwerten, begreifbar und erlebbar zu machen und aus der Ecke »des Orchideenfachs« oder »Wohlfühlthemas« herauszuholen bedeutet, möglichst genau die Bedingungen zu kennen, unter denen sie leidet oder zu gedeihen vermag. Bei diesem Erkundungsgang, der hier in aller gebotenen Kürze und notwendigen Vereinfachung unternommen werden soll, stellt man fest, wie eng die Entfaltung des bürgerschaftlichen Engagements mit den großen Themen unserer Zeit verknüpft ist.
Ausbeutung und prekäre Arbeit
Obschon die Deutschen reicher sind denn je, ist die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums so ungerecht wie zu keinem anderen Zeitpunkt der Nachkriegsgeschichte. Aber schon in diesem Satz liegt das erste Problem. Eigentlich muss man anders beginnen: Weil die Verteilung von Reichtum heute in Deutschland so ungerecht ist, ist auch der Wohlstand so groß wie nie zuvor. Denn die ungerechte Verteilung hängt mit der Anhäufung von maßlosem Reichtum direkt zusammen. Er setzt sie geradezu voraus. Es ist eben nicht so, dass der Wohlstand lediglich gerecht verteilt werden müsste. Der Wohlstand selbst ist – zumindest in den Dimensionen, die wir heute kennen – eine Folge ungerechter Verhältnisse. Wer Ungerechtigkeit bekämpfen und damit die Bedingungen für die Entfaltung der Bürgergesellschaft verbessern will, muss auch die Art und Weise in den Blick nehmen, wie der Reichtum zustande gekommen ist. Eine Politik für die Bürgergesellschaft muss ganz wesentlich als eine Politik des materiellen Ausgleichs durch Steuer- und Sozialgesetzgebung verstanden werden. Ohne entsprechende soziale Voraussetzungen läuft das bürgerschaftliche Engagement immer stärker Gefahr, zum »billigen Jakob« für einen klammen Staat, also zum Ausfallbürgen für staatliches Versagen, zu werden. Man muss sich die soziale Lage in Deutschland möglichst konkret vor Augen führen, um diesen Zusammenhang zu verstehen. Dies scheint seitens der offiziellen Politik bislang nicht zu geschehen, und genau deshalb ist Engagementpolitik auch nur in Ansätzen erkennbar.
Doch von vorne: Was heute kaum jemand mehr bestreitet, ist die soziale Drift, welche die Gesellschaft immer weiter auseinandertreibt und damit nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern auch die Demokratie selbst gefährdet. Wer danach fragt, wie es zu dieser stetig
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