Baustelle Demokratie
aufgespannt. Ausgehend von einer Beschreibung gesellschaftlicher und politischer Gegenwartstrends im ersten Kapitel (soziale Spaltung, Politikdistanz, Finanzkrise, Demografie und elektronische Kommunikation) wird die Situation der Bürgergesellschaft heute beschrieben. Dabei geht es im zweiten Kapitel gleichermaßen um positive Potenziale wie um negative Tendenzen. Anschließend werden im dritten Kapitel Perspektiven für die Bürgergesellschaft von morgen aufgezeichnet. Ein perspektivisches Fazit am Ende des Buches soll dabei helfen, zumindest einen Teil der Schulden abzutragen, die sich der Autor durch eine vielleicht allzu große Zuversicht bezüglich der Zukunft unserer Demokratie eingehandelt hat. Der Aufbruch in eine bessere Zukunft scheint fern und nah zugleich. Angesichts der aktuellen Lage gibt es eigentlich keinen Grund zu gesteigertem Optimismus. Angesichts des unglaublichen Potenzials jedoch und der unbändigen Energie, die das bürgerschaftliche Engagement nicht nur in Deutschland in sich trägt, kann man am Ende dann doch nicht anders, als optimistisch ans Werk zu gehen.
I. HABEN – Tendenzen der Gegenwart
Die Geschichte einer nach dem Untergang 1945 durch ein (Wirtschafts-)Wunder wiederauferstandenen deutschen Gesellschaft ist, wie wir heute aus einigem zeitlichem Abstand erkennen können, seit 1989 beendet. Doch gehört diese Periode in einen größeren Zusammenhang, den man sich vergegenwärtigen muss, um der Kurzatmigkeit und Geschichtslosigkeit zu entgehen. Nach einem »langen« 19. Jahrhundert – von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ersten Weltkrieg (1914–1918) – erlebte die Menschheit in der westlichen Hemisphäre ein »kurzes« 20. Jahrhundert, das von den Schlachtfeldern an der Somme und in Flandern seinen blutigen Ausgang nahm und bis zum flächendeckenden Zusammenbruch eines diktatorischen Staatssozialismus 1989 reichte; ein Jahrhundert, in dem wahnhafte und gewalttätige Ideologien unzählige Menschenleben forderten und das doch auf beinahe wundersame Weise mit einem Sieg von Menschenrechten und Demokratie endete (vgl. Hobsbawm 1998). Und das ist ein ganz wesentlicher historischer Ertrag: Was erstmals am 26. August 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verbindlich kodifiziert wurde, erwies sich – von zahlreichen Rückschlägen und Niederlagen begleitet – als wichtigste Antriebsfeder für die gesellschaftliche Entwicklung auf dem Weg von der Herrschaft absoluter Fürsten bis zur freiheitlich-demokratischen Verfasstheit moderner Gesellschaften. Der Erste Weltkrieg ist nicht nur deshalb eine wichtige Zäsur und auch das verspätete Ende des »langen« 19. Jahrhunderts, weil mit dem Untergang des deutschen Kaiserreiches, der habsburgischen Monarchie in Österreich-Ungarn und des russischen Zarenreiches das Ende der Idee der Monarchie besiegelt war, sondern weil in der »Materialschlacht« des ersten industriell geführten Krieges samt Giftgaseinsatz, Panzern, Maschinengewehren und begeistert-patriotischer Zustimmung deutlich wurde, dass Aufklärung und Menschenrechte jederzeit widerrufen und rückgängig gemacht werden können. Die Geschichte des »kurzen« 20. Jahrhunderts mit seinen mörderischen Ideologien und Gewaltexzessen führte dies dann sehr schmerzhaft vor Augen. Dass die Menschheit in diesem von Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung, Hass und Gewalt schwer gezeichneten Jahrhundert nicht vollends in der Barbarei (oder gar in der atomaren Selbstvernichtung) versank, ist – und das ist bei genauerer Betrachtung ein echtes Faszinosum – der Grundidee der Aufklärung zu verdanken. Aufgeklärte, das heißt reflektierte Vernunft und Menschenrechte konnten stets als ein verlässlicher Maßstab für die Beurteilung politischer Verhältnisse gelten und verfügen bis heute über eine ungebrochene Attraktivität.
Nun sind wir im 21. Jahrhundert angelangt, ungewiss umhertastend und seit gut 20 Jahren verwirrt durch eine weltpolitische Lage, auf die die alten Sichtweisen und Argumentationsmuster von Links und Rechts und West und Ost nicht mehr so recht passen wollen. Wir freuen uns (zumindest gelegentlich) über den Siegeszug der Demokratie und sehen ihn doch gleichzeitig gefährdet, sehen die »offene Gesellschaft« (Karl Popper) mit all ihren Chancen auf eine eigentümliche Art und Weise gelähmt oder gehemmt oder »entwicklungsverzögert«. Das geht so weit, dass sich mittlerweile die Vorstellung, gesellschaftlicher Fortschritt sei heute nicht mehr
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