Bd. 1 - Die dunkle Schwinge
geplant hatte, Lord Kriecher, fuhr esGa’u wieder fort, dessen ewig attraktives Gesicht vor Schadenfreude zur Fratze verzerrt war. Es mag mich zwar zerstören, aber es kann nicht anders, als dich auch zu vernichten. Ohne Anhänger, die dafür sorgen, dass dein Name weiterlebt, wirst du untergehen, ob du dich für einen Gott hältst oder nicht. Und die Dunkle Schwinge kann nicht scheitern, weil dein enger Ehrenkodex dem Volk keinen Erfolg erlaubt.
Schon jetzt höre ich die Armeen dessen, der erwartet wird, gegen meine Tore anrennen.
Der Träumer hörte Lärm, der von außerhalb des Labors des Hexenmeisters kam, Kampfgeräusche auf einer Treppe.
Es ist zu spät, um deinen alten Schwingen noch etwas Neues beizubringen, dachte esGa’u und wandte seine stolze Miene zum Himmel. Die Dunkle Schwinge kommt zu meiner Tür, esLi, mein alter Feind.
esGa ’u, Hexenmeister, Lord der Ausgestoßenen, drehte sich zur Tür, die bestürmt wurde, noch während die letzten Silben über seine Lippen kamen, die an den heulenden Sturm gerichtet waren. Ehe er die Tür öffnen konnte, wurde sie mit solcher Wucht aufgestoßen, dass sie aus den Angeln gerissen wurde und zu Boden schlug. Die Türöffnung dahinter wirkte wie ein klaffendes schwarzes Loch.
Durch diese Öffnung trat ein Mensch – der Admiral der Flotte, der Kommandant der Streitmacht der Menschen, die in diesem Moment auf dem Weg zu den Heimatsternen war. Er trug nichts von den Dingen, die man traditionell mit der Dunklen Schwinge in Verbindung brachte – keine karmesinrote Schärpe, kein Medaillon, das den Ungebrochenen Kreis zeigte. Er wirkte sogar völlig anders als in den anderen Träumen.
esGa’u stolperte nach hinten, als der Mensch in sein Labor kam, gefolgt von anderen Träumen und … von einem aus dem Volk. In einer Hand hielt der Mensch einen schlichten weißen Stab, das Symbol für …
»Die Helle Schwinge«, sagte der Mensch, der den Stab mit seiner langen Klauenhand umklammert hielt. Er ignorierte esGa’u und wandte sich der Position des Träumers zu.
»Es wird Zeit, Lord«, sagte er. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Mit Ihnen reden.
Mit Ihnen reden …
»… mit Ihnen reden. Ich bitte achttausendmal um Verzeihung, Hoher Lord, dass ich Ihre Ruhe störe. Aber Ihr Cousin se Hyos behauptet, es sei dringend.«
Der Hohe Lord sah auf seine Füße, die den Tonis fast schon krampfartig umschlossen hielten. Er brauchte einen Moment, um auch die letzten Bilder seines Traums zu verdrängen, dann seufzte er. Schließlich stieß er sich ab, breitete die Schwingen aus und flog lange, gelassene Bahnen, wobei seine Flügel im rhythmischem Elfertakt schlugen und er für sich das Ritual des Erwachens rezitierte.
»Sagen Sie meinem verehrten Cousin«, sprach Sse’e HeYen schließlich in das Mikrofon der Meditationskammer, »ich gewähre ihm mit Vergnügen seine Bitte. Und«, fügte der Hohe Lord an, als er auf einer Stange landete, die sich gut ein Dutzend Meter unterhalb von esLis Tonis befand, »sagen Sie ihm auch, dass seine Gründe, meine Meditation zu stören, unwichtig sind. Mein chya wird sein Blut kosten.«
»… wie Sie wünschen«, kam als Antwort, dann folgte Schweigen.
Der Hohe Lord verharrte auf der Sitzstange und dachte über den soeben erlebten Traum nach. Für manche waren Träume nichts weiter als geistige Übungen, die im Schlaf ausgeführt wurden. Doch es war lange her, dass die Träume des Hohen Lords die Konzentration auf das kollektive Unterbewusstsein richteten, eine Kralle, die nach esLi selbst ausgestreckt wurde. Sse’e HeYen interessierte sich nicht für die Spekulationen über die Wahrheit. Ihm war esLi – oder eine seiner Manifestationen – viele Male in diesen Visionen erschienen, und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Schöpfer nur ein Produkt des Traums eines Fühlenden sein sollte.
Es war jedoch gewiss, dass die Träume des Hohen Lords Bedeutung hatten. Es war seit langem als Tatsache akzeptiert, dass die Träume, die immer in Metaphern gehüllt zu sein schienen, interpretiert werden konnten, um der Wahrheit dessen auf den Grund zu gehen, was kommen würde … Es war so, als würde dem Fühlenden, der sie träumte, mit einem Mal ein Blick in die Zukunft gewährt, verbunden mit einem Bild, wie sich die Gegenwart darauf zubewegte.
Sse’e überlegte, was seine Vision bedeuten mochte.
Einiges davon war klar: esGa’u war der ewige Feind von esLi. Es war offensichtlich, dass die Ansichten über die Menschheit sie
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