BE (German Edition)
und er hat sehr viel von ihm erzählt. Das war ja eine tiefe Zuneigung zwischen den beiden …« Beim Abendessen erzählte ich Bernd von dieser E-Mail. Das Natascha-Kampusch-Drehbuch belastete ihn sehr, doch diese Erinnerung an Hubert Selby gab ihm einen willkommenen Fluchtweg. Es war die Vergangenheit, in die er an diesem Abend floh und die ihn tröstete. Er bat mich, folgende Nachricht an Henry Rollins zu schreiben – der Text stammt von Bernd, ist aber formuliert, als hätte ich ihn geschrieben:
Henry, hey. Wow. Bernd hat sich sehr über deine E-Mail gefreut. Er hat ein riesiges Lächeln im Gesicht. Die drei Jahre mit Hubert Selby während der Arbeit an ›Last Exit‹ waren eine sehr wichtige Zeit in Bernds Leben und hatten einen sehr großen Einfluss auf seine Vorstellungen davon, wer wir sind und wohin wir gehen … Hubert hatte natürlich auch keine Antworten auf diese Fragen. Aber er eröffnete Bernd einige interessante Pfade durch die Matrix. Auf seine Frage, ob er irgendwelche Träume hätte, antwortete Selby ihm: ›Nein. Ich habe keine Träume, ich habe Visionen. Und glaub mir, wenn du Träume hast, wird dich das Leben im Genick packen und diese Träume aus dir rausprügeln‹ (und dann lachte er in sich hinein). Diese Botschaft nahm sich Bernd sehr zu Herzen …
Die Begegnung mit Selby war ein einschneidendes Erlebnis für Bernd. Er war mehr als ein Freund und wurde zu seinem Vorbild. Hubert Selby gab Bernd wieder eine Vorstellung davon, wie er sein Leben weiterleben konnte. Was es bedeuten konnte, Mensch zu sein. Wie Selby wollte er sein. Selby starb im April 2004 – sechs Monate vor Bernds leiblichem Vater. Über Hubert Selby habe ich mit Henry Rollins gesprochen:
Was genau ist deine Verbindung zu Hubert Selby?
HR: In den Achtzigern stieß ich auf seine Bücher. Ich war um die zwanzig und hatte bis dahin noch nichts gelesen, was an Selby und seinen Stil der Anti-Literatur heranreichte. Damit musste man erst einmal fertig werden – all diese verschiedenen Männer in seinen Büchern, die alle Harry heißen, nur mit unterschiedlichen Nachnamen, jeder Nachname eine andere Farbe. Im Dezember 1986 wollte ich mit ihm reden. Ich fand heraus, dass er in Los Angeles wohnte und schaute einfach im Telefonbuch nach. Als ob das funktionieren würde. Aber es funktionierte! 653 7614, ich kann sie immer noch auswendig. Ich rief ihn an, besuchte ihn in seiner Wohnung auf dem Orlando Boulevard, und wir unterhielten uns einen Nachmittag lang. Ich gab ihm ein paar meiner eigenen bescheuerten Bücher und ging wieder. Das war für mich eine coole Erfahrung, und ich erwartete mir nicht mehr. Ein paar Tage später rief er mich an und zitierte aus meinen Büchern. Er meinte, ich sei ein guter Autor und sollte mich anstrengen und weitermachen. Das war wohl eine der größten, wenn nicht die größte Spritze in den Arm, die ich jemals erhalten habe. Er war einer der großzügigsten Menschen, dem ich jemals begegnet bin. Einzigartig. Wenn du mit Leuten sprichst, die ihn kannten, ist ihre Reaktion nie verhalten oder neutral. Die Menschen liebten ihn.
Was war Selby für ein Mensch?
HR: Selby war einer dieser Menschen, denen man alles erzählen konnte und die dich niemals verurteilen würden. Wenn du ihn um seine Hilfe gebeten hast, gab er sie dir. Seine Antwort war nicht immer, was du hören wolltest, denn er hat dir die Wahrheit niemals versüßt. Aber es war immer die Wahrheit, ob du nun damit umgehen konntest oder nicht. Das war die Welt, in der er gelebt hat. Er hat sich selbst akzeptiert – seine Dämonen, seine Engel, seine Fehler, seine Fehltritte. Er war sich all dessen sehr bewusst und ist mit der Totalität seiner Person klargekommen. Dadurch konnte er auch mit dir klarkommen. Sehr viele Menschen haben ihn um Rat gefragt und ihn gebeten, ihnen zuzuhören. Er war unglaublich großzügig mit solchen Sachen. Ich denke, das hat er als eine seiner Lebensaufgaben begriffen. Wahrscheinlich wusste er, dass er ein Verständnis für die Dinge des Lebens hatte, das viele andere Menschen nicht besitzen. Er hat mich Demut gelehrt.
Welche Bedeutung hatte das Buch »Letzte Ausfahrt Brooklyn« in seinem Leben?
HR: Es ist das Buch, durch das er das Schreiben gelernt hat. Er kaufte sich eine Schreibmaschine, setzte sich hin und fing an zu schreiben. Ich denke, er war überrascht über den Aufruhr, den das Buch verursachte. Er wollte unbedingt, dass seine Bücher verfilmt werden. Aber seiner Ansicht nach mochten ihn die
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