Beastly (German Edition)
ganzen Weg bis zur U-Bahn-Station überblicken. Welche Station ist das?«
Aber ich redete einfach weiter. »Man kann beobachten, wie die Leute vom Zug zur Arbeit gehen und nachmittags wieder zurück.« Als sie mich anschaute, sagte ich. »Nicht dass ich das je getan hätte.«
»Ich würde es tun. Ich wette, das haben die Leute die ganze Zeit gemacht. Man kann hier beobachten, wie sich ein ganzes Leben abspielt.«
Sie beugte sich vor und blickte hinunter auf die Straße. Ich starrte sie an, sah, wie ihr dicker roter Zopf auf ihrem Rücken lag und sich in der Nachmittagssonne golden färbte, betrachtete die Sommersprossen auf ihrer weißen Haut. Wie war das eigentlich mit Sommersprossen? Bekam man eine nach der anderen oder alle auf einmal? Zuletzt registrierte ich ihre blassgrauen Augen, die von weißlichen Wimpern umrandet waren. Es waren gütige Augen, fand ich, aber gab es Augen, die gütig genug waren, um mir mein bestialisches Äußeres zu verzeihen?
»Was ist mit den Kisten?« Ich deutete auf die Stapel in der Ecke.
»Oh, du hast recht.« Aber sie sah enttäuscht aus.
»Gegen fünf wird das Fenster interessanter. Da kommen die Leute allmählich von der Arbeit zurück.« Sie schaute mich an. »Na ja, vielleicht saß ich hier doch schon mal…ein- oder zweimal vielleicht.«
»Oh, verstehe.«
Die erste Kiste, die wir öffneten, war voller Bücher, und obwohl Lindy hunderte von Büchern besaß, wurde sie ganz aufgeregt. »Schau mal! Sara die kleine Prinzessin! Das war in der fünften Klasse mein Lieblingsbuch!« Ich trat neben sie, um es mir anzuschauen. Wie kam es, dass sich Mädchen für so blöde Dinge begeisterten?
Dann stieß Lindy einen noch lauteren Schrei aus. Ich eilte zu ihr, um zu sehen, ob sie sich verletzt hatte, aber sie sagte: » Jane Eyre! Das ist mein Lieblingsbuch!«
Ich erinnerte mich daran, dass sie darin gelesen hatte, als ich sie zum ersten Mal beobachtet hatte. »Du hast eine ganze Menge Lieblingsbücher. Hast du das nicht schon?«
»Ja, aber schau dir das mal an.«
Ich nahm das Buch in die Hand. Es roch irgendwie nach U-Bahn. Das Erscheinungsjahr war 1943, und es hatte diese überwiegend schwarzen, ganzseitigen Illustrationen. Ich schlug ein Bild auf, auf dem sich ein Paar unter einem Baum küsste. »Ich habe noch nie ein Buch für Erwachsene gesehen, in dem Bilder sind. Das ist cool.«
Sie nahm mir das Buch aus der Hand. »Ich liebe dieses Buch. Mir gefällt, dass es zeigt, wie zwei Menschen, wenn sie füreinander bestimmt sind, auch dann zusammenkommen werden, wenn etwas sie trennt. Dass da etwas Magisches ist.«
Ich dachte daran, wie Lindy und ich uns auf dem Ball kennengelernt hatten. Danach hatte ich sie durch den Spiegel beobachtet, und jetzt war sie hier. War das etwas Magisches? War das Kendras Art von Magie? Oder war es einfach Zufall? Ich wusste, dass es etwas Magisches gab. Ich wusste nur nicht, ob es immer funktionieren würde.
»Glaubst du daran?«, sagte ich. »An diesen Magie-Kram?«
Ihr Gesicht verdunkelte sich, als würde sie an etwas anderes denken. »Ich weiß nicht.«
Ich schaute mir wieder das Buch an. »Ich mag die Bilder.«
»Sie geben die Geschichte perfekt wieder.«
»Ich weiß nicht. Ich habe es nie gelesen. Ist das nicht eher etwas für Mädchen?«
»Du hast es noch nicht gelesen? Echt?« Ich wusste, was jetzt kommen würde. »Also, du musst es unbedingt lesen. Es ist das wundervollste Buch der Welt – eine Liebesgeschichte. Immer wenn wir Stromausfall hatten, habe ich darin gelesen. Es ist das perfekte Buch für Kerzenlicht.«
»Stromausfall?«
Lindy zuckte die Achseln. »Ich nehme an, das kommt bei uns öfter vor als bei anderen Leuten. Manchmal kam etwas dazwischen, und mein Vater konnte die Stromrechnung nicht bezahlen.«
Zum Beispiel, wenn er Nahrung für seine Nase oder seinen Blutkreislauf brauchte. Schließlich muss man Prioritäten setzen. Wieder dachte ich daran, wie sehr Lindy und ich uns ähnelten. Und wie sehr sich unsere Väter ähnelten – die Droge meines Vaters war seine Arbeit.
Ich nahm das Buch an mich. Und ich wusste, dass ich die ganze Nacht wach bleiben würde, um es zu lesen.
Schließlich schauten wir uns die übrigen Kisten an. Die zweite enthielt Sammelalben und Zeitungsausschnitte, in denen es immer um eine Schauspielerin namens Ida Dunleavy ging. Ich zog einige Plakate heraus: Ida Dunleavy als Portia in Der Kaufmann von Venedig. Ida Dunleavy in The School of Scandal.
Auch Theaterkritiken waren dabei. »Hör dir
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