Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
gegenüber vom Are de Triomphe einen großen Block mit France-Telekom-Telefonzellen gesehen. Soweit ich das abschätzen kann, ist es nur einen kurzen Fußmarsch von Ternes entfernt. Noch bin ich nicht vertraut genug mit meiner Gastmutter, um sie zu fragen, ob ich ihr Telefon benutzen darf, selbst mit Calling Card. Außerdem möchte ich gern ungestört mit Vince sprechen.
Als Zweites hänge ich mein Plakat von der Martha-Gra- ham-Dance-Company an einer der kahlen Wände in meinem neuen Zimmer auf. Es ist ein altes Schwarz-Weiß-Foto von Martha Graham selbst, bei dem der Rock um sie herumschwingt und sie aussieht wie im Rausch. Danach hänge ich alle Fotos auf, die ich mitgebracht habe, bis mein kleines Zimmerchen voll ist mit Bildern von Vince, meiner Mom, meinem Dad und meinem kleinen Bruder Brian. Nur ein Foto hänge ich nicht auf: eine Nahaufnahme von Vince vom 4. Juli dieses Jahres. Die lege ich in mein Portemonnaie, sodass ich sie anschauen kann, wann immer ich will.
Ich muss es ein paarmal läuten lassen, ehe Vince ans Telefon geht. Ungeduldig wippe ich dabei auf den Zehen vor und zurück und schaue durch das verschmierte Glas der Telefonzelle auf die belebte, wuselige Champs-Elysees. Auf der breiten Prachtstraße, die in beide Richtungen stark befahren ist, liegen rechts und links alle bekannten Modehäuser (Gap, Sephora, Prada und viele, viele andere) sowie große Cafes, deren Tische auf den Bürgersteigen stehen. Irgendwie ist es seltsam tröstlich, hier zu sein, trotz der ganzen Flektik. Ich schnappe viel Englisch von den dahinschlendernden Touristen auf, die den Kreisverkehr überqueren, in Richtung des Are de Triomphe und dem Grabmal des unbekannten Soldaten. Als die Sonne untergeht, schlüpfen die Touristen in ihre Windjacken, die sie sich um die Taille geschlungen hatten, weil die Luft nun abends doch schon herbstlich kühl wird. Irgendwie sehen sie fehl am Platz aus - genau so, wie ich mich fühle.
»Äh, Baby, wie spät ist es?«, fragt Vince stöhnend, als er endlich rangeht. Beim heiseren Klang seiner Stimme habe ich das Gefühl, als würde ich zusammengerollt neben ihm im Bett liegen und wäre nicht Tausende von Meilen entfernt.
»Ich bin beim Vörtanzen heute genommen worden!«, mfe ich. »Ich bin in der Fortgeschrittenen-Klasse!«
»Der was?«, fragt Vince müde. »Du warst beim Tanzen? Warte mal kurz.«
Im Hintergrund höre ich, wie Vince ächzt, und dann, wie eine Tür geschlossen wird. »Hey, bin wieder da«, sagt er. »Mein Zimmernachbar hat gerade ziemlich angepisst geguckt, dass ich ihn so früh wecke. Ich bin jetzt im Badezimmer.«
»Sorry«, sage ich, »ich hab gedacht, du wärst schon wach. Hast du denn heute gar kein Seminar?«
»Doch«, antwortet Vince. »Schon. Aber wir waren gestern ziemlich lang auf so einer Erstsemesterveranstaltung für die Sportstudis. Ist ziemlich abgegangen da. Na ja, sie schikanieren immer die Neuen und so, kennst das ja.«
»Oh, tut mir leid.«
»Nee, das ist cool.« Langsam klingt Vince schon etwas wacher. »Ich freu mich, dass du anrufst. Wie geht es dir?«
»Gut.« Ich lächle vor mich hin. Am liebsten würde ich mich jetzt in seine Arme kuscheln, mich in seinen morgendlichen Männergeruch hüllen, der mich immer sofort beruhigt. »Müde. Ich kann irgendwie noch gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin.«
»Ich auch nicht«, seufzt Vince. »Ich wünschte, wir könnten zum letzten Wochenende zurückspulen.«
Ich bekomme eine Gänsehaut, als er das sagt. Letztes Wochenende habe ich Vince nämlich in der UCLA besucht. Als zukünftige Studentin sollte ich im Studentenwohnheim schlafen, im Zimmer einer Tanzstudentin aus dem zweiten Studienjahr. Aber es war nicht schwer gewesen, sie zu überreden, dass sie mich bei Vince übernachten ließ, natürlich erst nach dem obligatorischen Gute-Nacht-Anruf meiner Mutter. Während Vinces Mitbewohner mit ein paar anderen Typen aus ihrem Basketballteam irgendwo Party gemacht haben, waren Vince und ich die ganze Nacht wach und haben auf seiner Betthälfte rumgeknutscht.
Natürlich kam da zwangsläufig die Sprache auch aufs erste Mal, da Vince ja jetzt im College ist, und ich für ein Jahr Weggehen würde. Aber am Ende habe ich ihm gesagt, dass ich lieber warte. Als ich jetzt von so weit weg mit ihm spreche und er so traurig klingt, wünschte ich irgendwie, ich wäre nicht losgefahren, ohne es mit ihm getan zu haben. Vielleicht glaubt Vince ja sogar, dass ich es gar nicht wollte, obwohl ich es ja wollte. Ich
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