Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
auf diesen seltsamen, verschlafenen Ort einstimmt?
Der Zug ruckelt und rummst. Schließlich bleibt er auf einem breiten verschneiten Feld stehen, meilenweit von jedem Bahnhof entfernt. Ich schaue starr aus dem Fenster und schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Bahn weiterfährt. Bitte!
Nach einer halben Stunde hat sich der Zug noch immer nicht von der Stelle gerührt.
Der Schaffner macht eine undeutliche Lautsprecheransage. Wir haben Verspätung. Unsere Ankunft in Rouen verschiebt sich um unbestimmte Zeit. Rouen - diese Stadt ist angeblich nur eine Stunde von Paris entfernt. Eine Stunde!
Im Zug ist alles viel zu eng. Ich stolpere in die kleine, miefige Toilette, die sich direkt hinter der Abteiltür befindet. Ich lese die französische Ermahnung, man solle die Toiletten doch bitte nur während der Fahrt benutzen, aber ich muss einfach. Eiskalter Wind zieht durch die Ritzen im Fenster und unter der dünnen Toilettentür hindurch. Es kommt mir so vor, als wäre die ganze Welt eingefroren.
Gerade als ich den Reißverschluss der Jeans wieder zuziehe, fährt der Zug polternd an und macht dann plötzlich eine seltsame Rechtskurve, sodass ich kurz das Gleichgewicht verliere. Im Geiste male ich mir aus, wie ich aus der Toilette, ja aus der Ausgangstür des Zuges rausfalle und in eine Schneewehe stürze. Ich würde stundenlang laufen, ohne auf einen einzigen Menschen zu treffen. Annabel würde ich so auch nie finden. Ich habe ja nicht mal ein Handy dabei. Ich stelle mir vor, wie ich mutterseelenallein in der Kälte sterbe und niemand würde mich jemals finden. Man könnte meine Leiche nicht nach Hause zu meinen Eltern bringen, um mich zu begraben. Aber meine Eltern könnten mich sowieso nicht beerdigen, weil sie ja im Gefängnis sitzen, bis sie zu alt sind, um sich überhaupt noch an mich zu erinnern. In beiden Familien gibt es nämlich vermehrt Alzheimer.
Nur Annabel würde sich noch an mich erinnern. Sie würde sich wundern, warum ich ihre Botschaft nie bekommen habe, und sich fragen, was mit dem Buch geschehen ist, das sie mir gegeben hat. Sie würde nie erfahren, dass es in meiner Jeanstasche gesteckt hat. In der Jeanstasche eInès toten Mädchens, das erfroren im Schnee liegt und das niemand identifiziert hat.
Ich schüttle den Kopf. Die Gedanken einer Irren.
Aus dem Milchglas des Toilettenfensters kann ich nicht hinaussehen. Wir fahren wieder - nicht schnell, aber doch kontinuierlich einem Ort entgegen, an dem ich hoffentlich endlich aus diesem schrecklichen Zug aussteigen kann. Eilig wasche ich mir die Hände unter dem schmerzend kalten Wasser am Waschbecken und kehre zu meinem Sitzplatz zurück. Wir fahren jetzt eher in östliche als in nördliche Richtung. Die Sonne ist hinter uns und geht gerade unter.
Ich habe nichts im Magen und seit vorletzter Nacht auch kein Auge mehr zugemacht. Der gesamte heutige Tag verging mit Madame Bovary und der Fahrt nach Rouen. Und damit, die schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht zu vergessen.
Atme, ermahne ich mich selbst. Die Panik darf nicht die Oberhand gewinnen. Sei stark. Atme.
Wenn ich die Augen schließe und der Schlaf mich zu übermannen droht, sehe ich unwillkürlich wieder den alten Mann vor mir, der mich begrapscht. Ich höre eine Frau schreien und spüre, wie sie mich in ihrem rasenden Zorn mit brühend heißem Tee bespritzt. Das war wirklich ein Heiligabend wie kein anderer. Mir blieb keine andere Wahl als wegzulaufen. Ich musste es tun.
»Pardon?« Erschrocken öffne ich die Augen und sehe einen jungen stämmigen Mann mit einer Baseball-Kappe vor mir. Er blickt mich fragend an.
»Oui?«, antworte ich. Ich taste nach dem Kragen meInès schwarzen Wollmantels. Er fühlt sich furchtbar eng an, als würde er mir die Luft abschnüren.
»Ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz«, sagt er. Sein Englisch ist gut, aber mit dem Akzent und jener französischen Satzmelodie, die mir von den Marquets wohl vertraut sind. Ich schüttle den Kopf. Ich möchte nur eins: dass der Typ verschwindet.
»Das ist kein Problem«, fährt er mit einem Lächeln fort. Er deutet auf die leeren Sitzplätze um uns herum. »Aber der Schaffner wird es vielleicht nicht so gern sehen. Sie wissen ja, wie das Zugpersonal sein kann.«
In französischen Zügen bekommt jeder einen Sitzplatz zugeteilt, und der Typ hat recht: Das Personal im Zug nimmt es äußerst genau damit, dass alle Fahrgäste auch auf dem richtigen Platz sitzen. Aber ich bin verwirrt. Ich sitze hier doch schon den
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