Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
sogar lauter als bei den Rockabilly-Konzerten im Süden der USA. Und lauter als mein Dad, immer wenn er mich angebrüllt hat, ich solle mich gefälligst nicht »so schwul aufführen«.
»Ich fühle mich so schuldig. PJ ist tot. Und davor hat sie ja anscheinend gelitten, ohne dass wir es gemerkt haben. Was, wenn ihre Eltern wirklich Drogenhändler sind, wie die Reporter behaupten? Und hier bin ich und tanze.« Olivia wischt sich mit dem nackten Arm über das Gesicht, während sich ihr Brustkorb schwer hebt und senkt. »Ich bin Backstage auf einem Konzert und tanze!«
»Ach, Olivia.« Ich ziehe ihren schwankenden Körper in meine Arme und küsse sie auf die Stirn. »Du musst dich nicht schuldig fühlen.«
»Warum sollte ich nicht, Zack?«, sagt Olivia mit einem Stöhnen an meiner Brust.
»Weil ...«, setze ich an, auch wenn ich mir selbst nicht mehr ganz sicher bin - vielleicht bin ich ja wirklich blind und will es nur nicht wahrhaben, so ähnlich wie das, was Bobby über den Glauben gesagt hat. »PJ ist nicht tot. Das weiß ich einfach. Ich ...« Ich frage mich, ob ich ihr davon erzählen soll. »Ich habe sie gesehen. Am Bahnhof von Rouen.«
»Was? Du warst in Rouen? Wann?« Olivia hört kurz auf zu schluchzen.
»Ich musste umsteigen, als ich während des Zugstreiks von Amsterdam hierhergefahren bin. Und da habe ich sie aus dem Zugfenster heraus gesehen!«
Olivia schüttelt den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass sie das wirklich war.«
»Doch!«, beharre ich. »Olivia, ich kenne doch PJ. Ich schwöre dir bei meinem Leben, dass sie es war! Und der Rucksack auf den Fotos in der Zeitung - das ist gar nicht ihr Rucksack! Das weiß ich.«
»Es ist echt nett, dass du Hoffnung hast, Zack«, sagt Olivia schniefend. »Aber was ist mit ihren Eltern? Es klingt so, als hätte es viele Gründe dafür gegeben, dass PJ traurig war, Gründe, von denen wir nichts wussten.«
»Selbst wenn ihre Eltern in Schwierigkeiten stecken, warum muss das automatisch bedeuten, dass sie tot ist?«, frage ich. »Vielleicht hat sie diesen Rucksack ja absichtlich dort abgestellt. Sie will, dass wir sie für tot halten. Du solltest ebenfalls die Hoffnung nicht aufgeben, Livvy!«
»Das kann man sich aber nun mal nicht aussuchen«, entgegnet Olivia mit hartem Unterton. Sie klingt wütend. Ich denke an all die Male zurück, wenn ich gesehen habe, wie Livvy in die Schule ging und etwas anhatte, das so aussah, als hätte sie darin geschlafen, und wie sie leise fluchend ihren Spind zuschlug. Ihre Augen sind jetzt wieder trocken und ihr Gesicht streng. »So funktioniert das leider nicht.« Sie starrt auf die Band, ohne wirklich zu sehen, wie diese die Bühne halb zerfetzen. Stattdessen fokussiert sie irgendeinen Punkt hinter den hellen Lichtern, den Verstärkern und den Spezialeffekten.
»Livvy, komm schon, du bist doch sonst so optimistisch. Was ist denn bloß los mit dir?«
»Hey, Zack!«, sagt André zu mir. Er tanzt noch immer. Auf charmante Weise nimmt er gar nicht wahr, was sich gerade neben ihm abspielt.
Ich erwidere seinen Blick.
Noch bevor ich »Was?« sagen kann, liegen seine Lippen schon auf meinen, und wir küssen uns mitten in der rappelvollen Sportarena. Der Song endet und die Menge bricht in tosenden Applaus aus. Ich stelle mir vor, dass sie alle für mich klatschen und meinen ersten Kuss feiern.
Genau das habe ich gerade gemeint: Muss man da nicht optimistisch sein?
FEBRUAR
5 • PJ
Kaputt, aber trotzdem noch was wert
Als sich die Zugtüren in Caen öffnen, hätte ich mir fast meine Sachen geschnappt, um auszusteigen. Denn von hier bis Paris gibt es jetzt keinen einzigen Zwischenhalt mehr. Ob ich wirklich zurückkann? In nur zwei Stunden rolle ich, wenn ich jetzt nicht aussteige, in den Gare Saint-Lazare ein, nur wenige Schritte vom Lycée im 8. Arrondissement entfernt.
Der Zugpfiff ertönt. Die Leute, die bereits ihre Sitzplätze gefunden haben, beugen sich zu den Fenstern vor, um einen letzten Blick auf ihre Lieben am Bahnhof zu werfen. »Au revoir«, formen sie tonlos mit den Lippen. »Auf Wiedersehen.«
In Paris angekommen, laufe ich mit angehaltenem Atem den Bahnsteig am Gare Saint-Lazare entlang, bis ich in die Metro gelange und unter den Grands Boulevards zu den Außenbezirken der Stadt unterwegs bin. Jedes Mal, wenn sich die Türen öffnen, steigt mir dieser vertraute Geruch des Pariser Untergrunds in die Nase. Neben mir schläft ein älterer Mann. Sein Atem geht heiser und geräuschvoll. Ich lausche dem
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