Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
Rhythmus, der Art und Weise, wie er langsam und keuchend ausatmet. Er riecht unangenehm nach mehrtägigem Saufgelage und Schweiß, aber ich habe keine Lust, mich woanders hinzusetzen. Ich möchte nicht auffallen, weil mich irgendjemand bei irgendeiner Aktion beobachtet.
Zu guter Letzt steige ich aus der U-Bahn und lasse alle Leute rings um mich herum vorausmarschieren. Ich habe keine Eile. Wieder will ich keinen gehetzten Eindruck machen. Ich will überhaupt nicht nach irgendetwas aussehen. Als ich auf die Straße hochkomme, blicke ich kurz auf und denke, wie seltsam vertraut mir dieses graue milchige Licht ist. Hier bin ich schon mal gewesen, an der Porte de Montreuil, und zwar frühmorgens. Da war das Licht ganz genauso. Das Letzte, was ich in Paris gemacht hatte, bevor ich zurück zum Gare du Nord fuhr und den ersten Zug nach Rouen nahm, war, zu Jay zu gehen und ihm eine dumme Postkarte vor die Tür zu legen.
»Des Cigarettes, mademoiselle? Tabac ? La presse ?« Wie aus dem Nichts taucht ein korpulenter Mann neben mir auf und spricht nuschelnd, als hätte er Schlamm im Mund. Ich schüttle den Kopf. Trotzdem folgt er mir noch ein paar Schritte.
»Non!« , sage ich, aber innerlich macht es mir zu schaffen, wie verletzlich ich in Paris auf offener Straße bin. Ich bin in meinem eigenen Dilemma gefangen. Mich könnte jederzeit jemand sehen. Und erkennen. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich muss Jay unbedingt finden. Noch heute.
Der Marché aux Puces de la Porte de Montreuil ist ein Flohmarkt, der immer am Wochenende stattfindet, ganz in der Nähe von dort, wo Jay wohnt. Der Markt verläuft entlang des Boulevards Périphériques, direkt gegenüber der Straßenüberführung von der Metro-Station am Rand des 20. Arrondissements oder des Vingtiéme, wie es die Pariser nennen. Moderne Glashotels ragen über den kleinen Ständen und Tischen auf, die dicht an dicht in dem kleinen Marktbereich unter freiem Himmel stehen. An den marché schließt sich der kleine Außenbezirk Montreuil an, der sich in nichts von den anderen Rand-Arrondissements unterscheidet.
Obwohl es noch früh ist, herrscht auf dem Flohmarkt schon ein unangenehm dichtes Gedränge. Um jeden Tisch stehen Leute herum, schauen sich alles an und begrapschen die feilgebotenen Waren. Auf dem gesamten Markt riecht es nach Zigarettenrauch. Alle - Verkäufer, Käufer sowie die Kellner, die in den umliegenden Cafés bedienen - scheinen zu rauchen.
Ich laufe den gesamten Markt ab, vom äußersten Ende, an dem arme Frauen kleine Decken vor sich ausgebreitet haben und nur ein paar alte Schuhe verkaufen wollen, bis hin zu Ständen, an denen ganze Ladeflächen voll mit neuer Ware leer geräumt werden und wo Marktschreier so laut und schnell wie möglich »Aux choix! Aux choix /« rufen, um die Aufmerksamkeit der sich vorbeischiebenden Menge auf sich zu lenken.
Er wird kommen. Ich weiß, dass er hier sein wird. Wie jeden Sonntag. Zumindest war das bisher immer so. Bevor ich geflohen bin. Natürlich könnte er seine Gewohnheit inzwischen geändert haben. Wir haben uns ja ziemlich lange nicht mehr gesehen. Ob ich ihn überhaupt noch wiedererkenne? Da ich fest davon ausgegangen war, dass er wie üblich sonntags über den Flohmarkt bummeln würde, habe ich mir im Zug gar keinen Plan B zurechtgelegt. Außerdem war ich viel zu sehr mit meiner Angst davor beschäftigt, überhaupt in den Zug einzusteigen. Aber jetzt, mitten in diesem ganzen Durcheinander aus Menschen und Ständen und diesem ekligen Rauch, fühle ich mich noch einsamer als sowieso schon. Vollkommen unmöglich, dass ich ihn einfach so finden werde.
Hier ist es schmuddelig, nicht gerade schön, aber trotzdem ist Montreuil keine harte Gegend. Montreuil zählt eher zu den Arbeitervierteln von Paris, mit modernen grauen Gebäuden mitsamt Aufzügen für die oberen Stockwerke und günstigen Supermärkten - Leader Price, Carrefour - im jeweiligen Erdgeschoss direkt an der Straße. Große Plätze, auf denen Kinder auf dem Asphalt Fußball spielen. Chinesische Nagelstudios. Schwere schmiedeeiserne Tore und Zäune um Wohnungskomplexe herum.
Irgendwie lustig, dass Mme Cuchon den hiesigen Unterkünften kein einziges Mädchen aus dem »Programme Américain« zugeteilt hat, nur Jay, Cory, Sammy und Lucas. Fast so, als glaube sie, dass die Mädchen damit nicht klarkämen. So als wären wir hier nicht sicher.
Dabei hat sie nicht bedacht, dass man auch in den anderen Unterkünften nicht wirklich sicher sein kann. Sogar in der
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